Tim Blannings umfangreiche Studie über Friedrich den Großen liegt jetzt auf Deutsch vor

Über kaum eine Persönlichkeit der deutschen Geschichte dürfte so viel geschrieben worden sein wie über Friedrich den Großen. Auch die Geschichte Westpreußens lässt sich ohne ihn nicht erzählen. Das Bild des Preußenkönigs hat sich mit der Zeit aber sehr gewandelt. Die neue Biografie von Tim Blanning zeigt ihn als Mann der Widersprüche.

Bei seiner Berliner Festrede zum 300. Geburtstag Friedrichs des Großen benutzte Christopher Clark einen merkwürdigen Vergleich: Der Preußenkönig, so meinte Clark, habe heute fast die „Allgegenwärtigkeit von Coca-Cola“. Wenn sogar ein renommierter Historiker und sprachgewandter Autor sich zu einer solchen, etwas unbeholfenen Formulierung hinreißen lässt, dann scheint es um Außergewöhnliches zu gehen.

Tatsächlich ist das Interesse an Friedrich groß, und auch die forschende Auseinandersetzung mit ihm nimmt kein Ende. Das Großereignis des Jubiläumsjahres 2012 war die Ausstellung Friederisiko im Neuen Palais in Potsdam. Ein weiterer Meilenstein könnte die von Tim Blanning vorlegte Biografie des preußischen Regenten sein. Das englische Original erschien 2015, seit kurzem liegt jetzt im Verlag C. H. Beck die deutsche Ausgabe vor. Die Frage, ob denn an der Figur Friedrichs überhaupt noch neue Facetten entdeckt werden könnten, scheint berechtigt. Doch Tim Blanning, der bis 2009 Neuere Europäische Geschichte an der Universität Cambridge lehrte, zeigt, dass dies durchaus möglich ist. Sein Blick auf Friedrich ist eine Herausforderung – und das nicht nur wegen der rund 700 Seiten, auf denen er ihn erläutert hat.

Lebenslange Beschäftigung mit dem Preußenkönig

Blannings Friedrich-Buch ist in vieler Hinsicht keine konventionelle Biografie, die ihrem Protagonisten von der Wiege bis zur Bahre auf Schritt und Tritt folgt. Stattdessen nähert er sich ihm sozusagen von der Seite an. Im kompakten, aber sehr aufschlussreichen ersten Kapitel („Die Erbschaft“) geht es zunächst um die Frage, wie der preußische Staat funktionierte und woher etwa der Ruf der Effizienz und Unbestechlichkeit kommt, den die preußische Beamtenschaft noch heute in der Rückschau genießt. Die Verwaltung, die Friedrichs Vorgänger etabliert hatten, war alles andere als perfekt und keineswegs frei von Korruption. Doch im Land der Blinden sei eben der Einäugige König, wie Blanning ironisch kommentiert, soll heißen: Im Vergleich mit den Zuständen in anderen Staaten hatte Preußen sich ein erheblich zuverlässigeres System aufgebaut.

Angesichts des schonungslos den Realien verpflichteten Bildes von Friedrich, das Blanning entwirft, mögen manche Leser in dem Buch einen Versuch sehen, ein Denkmal vom Sockel zu stoßen. Dabei ist Blanning kein Bilderstürmer. „Soweit ich zurückdenken kann, habe ich immer wieder über Friedrich den Großen entweder gelesen oder geschrieben“, erklärt der Autor im Nachwort. Das Ergebnis dieses langen Prozesses ist ein Resümee mit klaren Standpunkten, unter anderem zu einem Thema, um das man lange einen Bogen gemacht hat: Blanning vertritt die Ansicht, dass Friedrich aller Wahrscheinlichkeit nach homosexuell war. Es könne zwar nie abschließende Klarheit darüber geben, ob der König seine Neigung auslebte, doch angesichts von Briefen, für Friedrich geschaffenen erotischen Kunstwerken und anderen Zeugnissen kommt Blanning zu dem Schluss, dass es an den Präferenzen des Herrschers kaum einen Zweifel geben könne. Diese Enthüllungen aus dem Privatleben sind für Blanning kein Selbstzweck. Die Sexualität begreift er als Teil einer Suche des jungen Friedrich nach Selbstbestimmung und einer eigenen Identität, die mit dem Tod seines ihm gegenüber brutalen Vaters und Thronvorgängers Friedrich Wilhelm I. im Jahre 1740 einsetzte. Friedrichs intensive Beschäftigung mit der Philosophie der Aufklärung und seine Leidenschaft für die Musik, beides vom Vater abgelehnt, stellt er in denselben Zusammenhang.

Machtpolitik: Schlesien und Westpreußen

Doch mit dem Wunsch, den erdrückenden Vater zu überwinden, wurde Friedrich ihm zugleich ähnlicher. So verhielt er sich, als er an die Stelle von Friedrich Wilhelm I. getreten war, seinen Geschwistern und nicht zuletzt auch seiner Ehefrau Königin Elisabeth Christine gegenüber, der er nur selten begegnete, zum Teil ausgesprochen kaltherzig. Das Ziel, den als „Soldatenkönig“ bekannten Vater auch durch militärischen Ruhm zu übertreffen, geriet bald in Konflikt mit Friedrichs grundsätzlich glaubhaften aufklärerischen Ansichten. 1740 war eine Schrift von ihm (der Antimachiavel) im Druck erschienen, in der er Monarchen strenge moralische Verpflichtungen auferlegte und den Krieg als „Abgrund des Jammers“ bezeichnete. „Keine drei Monate nach der Publikation dieser wohlklingenden Worte“, ergänzt Blanning, „fiel Friedrich in Schlesien ein. Diese Invasion“, später als Erster Schlesischer Krieg benannt, „ließ sich weder als Verteidigungs- oder Präventivkrieg noch als Krieg zur Unterstützung von Alliierten bezeichnen“. Hellsichtig erscheint da die Einschätzung von Jean-Jacques Rousseau, die Blanning an anderer Stelle zitiert: Friedrich denke als Philosoph, aber handele als König. Schon als junger Mann hatte Friedrich noch andere machtpolitische Ziele entworfen: „Ganz oben auf der Einkaufliste stand das polnische (West-)Preußen, dessen Erwerb Brandenburg mit Ostpreußen verbinden und ihm die Kontrolle über den polnischen Handel auf der Weichsel erlauben würde.“ Jahrzehnte später konnte dieses Ziel schließlich erreicht werden: 1772 erhielt Friedrich im Rahmen der Ersten Polnischen Teilung – heute würde man sagen: in einem „Deal“ zwischen ihm, Russland und Österreich – das Land an der unteren Weichsel zugesprochen. Damit war die kurz darauf so benannte Provinz „Westpreußen“ etabliert, und das, wie man in Berlin mit Begeisterung feststellte, ohne dass ein Schuss abgefeuert worden wäre. Das Datum stand in der deutschen Geschichtsschreibung lange ganz ungebrochen für eine Erfolgsgeschichte. Aus heutiger, europäischer Perspektive ist nicht von der Hand zu weisen, dass Preußen und die anderen Mächte Polen bereits als eine Art Kolonialgebiet behandelt hatten, „ganz ähnlich wie Afrika im späten 19. Jahrhundert“, wie Blanning dem amerikanischen Historiker Paul Schroeder beipflichtet. Das machtpolitische Kalkül wurde bei Friedrich laut Blanning noch „von schlichten Vorurteilen untermauert“: In Polen herrschte aus Sicht des preußischen Königs dauerhafte Anarchie. Dieses Land in Besitz zu nehmen, konnte so als eine Art „zivilisatorische Mission“ erscheinen.

Ähnlich zwiespältig gestaltete sich die preußische Innenpolitik, wie Blanning im Kapitel „Licht und Schatten an der Heimatfront“ erklärt. Wohin man auch schaut: Bei vielen Direktiven und Ansichten Friedrichs scheint es zwei Seiten gegeben zu haben, die heute Spielraum für sehr unterschiedliche Beurteilungen eröffnen. Das beginnt schon bei der religiösen Toleranz, für die Friedrich über die Grenzen Preußens hinaus gelobt wurde, zum Ausdruck gebracht im berühmten Ausspruch vom selig Werden nach je eigener Fasson. Folgt man Blanning, dann war Friedrich ein gehässiger Atheist, der lediglich allen Konfessionen gegenüber gleichermaßen feindselig eingestellt war – und noch viel mehr gegenüber dem Judentum. Ähnlich sei es mit Friedrichs Abschaffung der Folter im Jahre 1755: Sie ist zwar in Europa zu einem Vorbild geworden, doch einzelne Willkürakte des Herrschers schloss das nicht aus, so dass „doch hin und wieder die Erlaubnis gegeben wurde, Folter anzuwenden oder grausame und unnatürliche Strafen zu verhängen“. So sei im Jahre 1746 „der Kopf des preußischen Konsuls in Danzig, von Ferber, aufgespießt außerhalb des Spandauer Gefängnisses ausgestellt“ worden, „als schauerliche Warnung an jeden, der mit dem Gedanken an Hochverrat spielte“.

Bedeutend, selbst wenn er nicht König gewesen wäre

Aus einer heutigen gesamteuro­päi­schen Perspektive erscheint es interessant, dass Friedrich hauptsächlich französisch sprach und schrieb. Der Hof Ludwigs XIV. galt ihm als ein Vorbild, und seine enge, jedoch im Streit endende Beziehung zu dem Philosophen und Schriftsteller Voltaire ist bekannt. Es sei jedoch „ein weitverbreiteter, eklatanter Irrtum“, deshalb zu glauben, Friedrich habe sich zu Frankreich hingezogen gefühlt. Doch von der deutschen Kultur hielt er ebenfalls nicht viel. Am deutlichsten wird das in seiner späten Veröffentlichung Über die deutsche Literatur, in der er von der zeitgenössischen literarischen Produktion aus den deutschsprachigen Staaten nichts gelten ließ und den Autoren wiederum das Vorbild der älteren französischen Dichtung empfahl.

Wie Blanning zeigt, kann es keinen Zweifel daran geben, dass Friedrich ein sensibler, hochgebildeter Mann war. Als Feldherr las der Herrscher in Gefechtspausen antike oder aktuelle Philosophen, mit seinen Leistungen als „politischer Denker, Historiker, Dichter, Dramatiker, Komponist und Flötenspieler hätte er sich in jeder Kulturgeschichte des achtzehnten Jahrhunderts eine Nische verdient, selbst wenn er nicht zusätzlich König von Preußen gewesen wäre“. Die Kehrseite seiner Versiertheit und seines Selbstbewusstseins muss aber ein autoritäres Beharren auf seinen einmal erworbenen Kenntnissen gewesen sein: „Sein kultureller Geschmack hatte sich gebildet, bevor er den Thron bestieg, und sich danach nicht weiterentwickelt.“ Eben das drückt sich auch in der Schrift über die deutsche Literatur aus. Andererseits hat man dieser schlecht informierten königlichen Intervention später zugutegehalten, dass sie eine Diskussion angeregt habe, aus der die deutsche Literatur gestärkt hervorgegangen sei. Bereits Goethe hat das so gesehen.

Modern war Friedrich offenbar darin, dass er genau auf die öffentliche Meinung achtete und sein Bild in der Öffentlichkeit zu gestalten versuchte, auch wenn er das stets bestritt. Die Möglichkeit, Petitionen direkt an den König einzureichen, die Volksnähe, die er bei seinen Inspektionsreisen zelebrierte oder seine Angewohnheit, entgegen allen Gepflogenheiten der Zeit vor jedermann den Hut zu ziehen, haben erheblich zu seiner Popularität beigetragen. Das Bild des asketischen, bodenständigen „Alten Fritz“ hat Friedrich selbst mit entworfen, es war jedoch für die Öffentlichkeit gemacht und hatte nur wenig mit der Realität zu tun. Blanning schreibt dazu, dass ein „Luxusleben“ für damalige Regenten natürlich absolut nichts Außergewöhnliches gewesen sei. Bei Friedrich überrasche jedoch „der Widerspruch zwischen dem Bild spartanischer Austerität und der Wirklichkeit eines eher sybaritischen Lebensstils“ – womit ein schwelgerischer, fast genusssüchtiger Habitus gemeint ist. Man kann das in Friedrichs kulinarischen Ansprüchen bestätigt sehen (Kirschen auch außerhalb der Saison für „mehr als einen Taler pro Stück“), in seinem Tabakkonsum und der dazugehörigen Sammlung opulenter Behältnisse oder vielen anderen Extravaganzen.

Der Friedrich-Kult

Friedrichs Pflichtbewusstsein als „erstem Diener des Staates“ tat das keinen Abbruch. Seine Arbeitstage begannen in den frühen Morgenstunden, wollte er doch zeitlebens alle Angelegenheiten des Staates selbst in der Hand behalten und versuchte, mit Blannings Formulierung, „Preußen im Alleingang zu regieren“. Dieses selbstauferlegte Pensum zeigt zugleich allerdings, dass er einem Politikverständnis anhing, das am Ende seines Lebens eigentlich schon hoffnungslos veraltet war: Der Staat, den Friedrich aufgebaut hatte, war bereits so komplex geworden, dass viele Fragen hätten delegiert werden müssen. Als völlig unverständlich beurteilt Blanning schließlich Friedrichs Desinteresse, seinen Neffen Friedrich Wilhelm als Thronfolger aufzubauen: „In einem derart personalisierten System keine angemessene Vorsorge für die zukünftige Regierung zu treffen, lässt sich nur als schwerwiegende Pflichtverletzung im königlichen Amt beschreiben.“

Als Friedrich schließlich 1786 starb, sei laut manchen Quellen „eine überwältigende Erleichterung“ zu spüren gewesen: „Wie auch immer die nächste Regierung sich entwickeln würde, sie wäre ganz gewiss entspannter.“ Dennoch sei schon bald ein Friedrich-Kult entstanden, stark gefördert durch die geschäftstüchtigen Verkäufer einer neuartigen Andenken-Industrie. Friedrichs „Nachleben“ vergleicht Blanning mit dem eines etwas späteren europäischen Regenten: „Wie bei Napoleon, zu dessen Untergang bei Leipzig und Waterloo die Preußen so viel beitrugen, fielen auch bei Friedrich im Lauf der Zeit die Schwachstellen ab wie Schorf; was übrig blieb, war makelloses Heldentum in einem nostalgischen Dunst.“

Napoleon hat ganz am Ende von Tim Blannings Friedrich-­Biografie noch einmal einen Auftritt. Seinem Sieg über Preußen im Jahre 1806 maß er historische Bedeutung bei und ließ ihn als Revanche für die Niederlage Frankreichs gegen denselben Gegner in der Schlacht bei Roßbach rund fünfzig Jahre zuvor darstellen. Schon kurz nach dem militärischen Triumph besuchte Napoleon sowohl Schloss Sanssouci als auch das Grab Friedrichs des Großen in der Garnisonkirche, an dem er nachdenklich verweilte. Und noch heute kommt man an diesem Preußenkönig einfach nicht vorbei.

  Alexander Kleinschrodt