Vor 30 Jahren, 1989, erodierte die Macht der Sowjetunion und des Warschauer Paktes zusehends – in der DDR und Polen ebenso wie in der Tschechoslowakei. Was ist von der Aufbruchsstimmung dieser Zeit geblieben ?  Welche politischen Kräfte prägen heute Ostmitteleuropa ?  Und welche Perspektiven ergeben sich hieraus für Europa ?  Hierüber spricht Karl Fürst von Schwarzenberg im Interview mit Tilman Asmus Fischer. – Der mitteleuropäische Staatsmann wurde 1937 in Prag geboren, wohin er nach der „Samtenen Revolution“ zurückkehrte. Von 2007 bis 2013 war er mit kurzer Unterbrechung tschechischer Außenminister. Für die liberal-konservative Partei TOP 09, deren Ehrenvorsitzender er ist, gehört er dem tschechischen Parlament an.

Fürst von Schwarzenberg, wie haben Sie die Ereignisse des Jahres 1989 erlebt ?

Im Prinzip gespannt, was passieren wird. Man merkte, dass das sowjetische Reich in sich zusammenbricht. Bloß wie schnell dem so sein wird, haben wir alle nicht geahnt. Aber natürlich, die Ereignisse in Ungarn, dann in der DDR usw. waren hoch interessant. Am 17. November war ich nicht in Prag, sondern in Ungarn, oben bei Debrezin. Plötzlich kommt jemand zu mir und sagt :  „Im slowakischen Fernsehen senden sie, es tut sich was in Prag.“ Am nächsten Morgen bin ich losgefahren und habe schon von unterwegs angerufen, man soll mir ein Visum für Prag geben. Das wurde zunächst einmal abgelehnt, und mir wurde mitgeteilt, ich sollte wissen, dass ich in Prag nicht willkommen bin. Eine Woche später war das alles längst Vergangenheit. In den vorangegangenen Jahren war ich – als Vorsitzender der Internationalen Helsinki-Föderation für Menschenrechte – in sehr vielen Staaten Mitteleuropas unterwegs gewesen und man sah, dass sich etwas entwickelt ;  aber wie schnell das ging, habe ich selber nicht geahnt.

Wie war damals die Stimmung in der Tschechoslowakei und in den anderen Ländern Ostmitteleuropas, mit denen Sie im Kontakt standen ?

Erleichtert – eine ungeheure Erleich­terung, dass der Albtraum vorbei ist. Natürlich gab es Leute, die dem alten Regime nachhingen. Aber nachdem das alte kommunistische Regime – zumindest in der Tschechoslowakei – bereits degeneriert war, war auch die große Zeit der kommunistischen Führung längst vorbei.

Was ist heute, 30 Jahre danach, von der Aufbruchsstimmung der damaligen Zeit geblieben ?

Wenig, also zumindest hier. Das Land gedeiht, wirtschaftlich blüht es, die Arbeitslosigkeit ist gering, das Land wird sichtlich reicher – aber die politische Stimmung ist unterm Hund.

Welche Gründe machen Sie dafür aus ?

Schauen Sie, Westdeutschland hatte das Glück, nur zwölf Jahre ein totalitäres System zu haben ;  wir hatten das „Vergnügen“ 50 Jahre lang :  von 1939 bis 1989. Das hinterlässt sehr, sehr lange Spuren. Denn ein totalitäres System hinterlässt Spuren nicht nur bei den Opfern, sondern natürlich auch bei den Tätern – sogar bei denen, die sorgfältig versucht haben, sich herauszuhalten.

Haben wir es hierbei mit einem strukturellen Problem zu tun, das alle Nachfolgestaaten des Warschauer Paktes prägt ?

In stärkerer oder schwächerer Form. In Ungarn zeigen sich die Folgen an der Akzeptanz eines ziemlich autoritären Systems, bei uns im Erfolg der populistischen Partei ANO, überall an der Korruption – es ist in jedem Land etwas verschieden.

Wie blickt man denn in Tschechien auf die Entwicklungen im nördlichen Nachbarland Polen ? 

Man verurteilt es nicht so hart wie in Deutschland, man betrachtet die Entwicklung jedoch skeptisch. Aber Polen hat eben eine andere Geschichte als die Tschechische Republik. Die dortige Regierung ist wirklich nicht die meine oder etwas, was ich mir erträumen würde. Aber in der westlichen Presse, wo Ungarn und Polen gleichgesetzt werden – was schon ein gewaltiger Irrtum ist –, herrschen Vorstellungen über den Charakter der PiS, die nicht ganz korrekt sind.

Wie würden Sie demgegenüber den politischen Charakter der PiS einschätzen ?

Man darf nicht vergessen :  In Polen waren seit dem 19. Jahrhundert die Nationaldemokraten die stärkste politische Strömung im Land, was ihnen nicht half, solange Polen geteilt war, weil die Besatzungsmächte sie unterdrückten. Nachher ist Józef Piłsudski zur Macht gekommen, dann kamen die Obristen, dann kamen die Nazis, dann kamen die Kommunisten – und nachdem diese gestürzt wurden, waren erst einmal die Leute um die Solidarność einige Jahre an der Macht. Die Nationaldemokraten waren immer eine starke Gruppe, sind aber nie zur Macht gekommen. Dies ist ihnen erst nach mehr als hundert Jahren in Gestalt der PiS „endlich“ gelungen. Und begreiflicher Weise verhalten sie sich jetzt als eine „TKM“-­Partei, wie man in Polen sagt :  Teraz, kurwa, my ! – Jetzt, zum Teufel, sind wir dran!

Und jetzt holen sie nach …

… was sie in den hundert Jahren versäumt haben. Aber, bitte :  Gibt es einen politischen Gefangenen in ganz Polen ?  Ein politischer Bekannter aus Deutschland hat im Gespräch mit mir furchtbar auf die Polen geschimpft. Da habe ich ihn angesehen und gesagt :  Ich bin ein sehr alter Mann. Ich erinnere mich an die Politik der 1950er Jahre. Mit Verlaub gesagt, was Ihr jetzt der PiS vorwerft, haben prominente deutsche Politiker in den 1950er Jahren verkündet – der Kreis um die Zeitschrift Neues Abendland, Alois Hundhammer oder Hans-Joachim von Merkatz. Zu dieser Zeit waren in einem Teil der Führungskreise der Bundesrepublik durchaus ähnliche Vorstellungen vertreten wie heute in der PiS. Nur hat sich Deutschland bis heute weiterentwickelt. Polen aber ist erst vor 30 Jahren frei geworden und befindet sich in einem Nachholprozess – auch Polen muss sich weiterentwickeln.

Also haben wir es in diesem Sinne mit einem ‚Europa der zwei Geschwindigkeiten‘ zu tun.

Nein, es hat nicht mit zwei Geschwindigkeiten zu tun, wir starteten mit einem Rückstand. Wir haben die Zeit von 1945 bis 1989 verloren – ich bitte, das zur Kenntnis zu nehmen !  Es spricht sich fröhlich über Demokratie, wenn man sie über sieben Jahrzehnte gehabt hat. Wenn man sie erst knapp 30 Jahre hat, ist das etwas ganz anderes. Die Menschen hier sind weder gescheiter noch dümmer als im Westen, aber alles braucht seine Zeit. Auch die Mentalität in der ehemaligen DDR ist anders als in Westdeutschland.

Was müsste vor diesem Hintergrund geschehen, um die gescheiterte Kommunikation zwischen Ost und West in Europa zu überwinden ?

Wieder Respekt voreinander haben, nicht der eingebildete Wessi sein, der alles besser weiß – nicht mehr denken :  Andere sind nur rückständig und müssen belehrt werden.

Wie blickt denn in der anderen Richtung gegenwärtig die tschechische Öffentlichkeit auf die deutsche Politik ?

Manchmal etwas erstaunt, an und für sich mit gewissen Sympathien. Die Kanzlerin wurde sehr bewundert – nachdem sie die Flüchtlinge aufgenommen hat, wurden die Leute skeptischer. Das Verhältnis ist zurzeit aber, Gott sei Dank, hervorragend.

Weniger hervorragend sind die Beziehungen der EU zu Russland. Wie nehmen Sie – auch in Tschechien – die versuchte Einflussnahme des Kremls auf die europäische Politik wahr ?

In unseren Breiten hat man die Russen gekannt, in Gestalt der Sowjetunion. Man hat da keine Illusionen. Es gibt sehr viele Agenten der Russen in der Tschechischen Republik und natürlich verschiedene Trolle wie überall. Das Witzige ist ja – aber das ist ein gesamteuropäisches Phänomen –, dass der hochbegabte Wladimir Wladimirowitsch Putin beides beherrscht :  Er hält nach wie vor hervorragende Beziehungen zur extremen Linken – die Kommunistische Partei Tschechiens ist weiterhin pro-russisch ;  und zugleich hat er die „Faschos“ auf der rechten Seite gewonnen – das ist in Deutschland die AfD, das ist bei uns Tomio Okamura. Dazu kommt seine Affektivität für Politiker, die Eitelkeit, sich im Kreise der Großen zu zeigen. Eigentlich ein beachtliches Kunststück !

Was geschieht in einzelnen Staaten – wie Tschechien – oder seitens der EU, um sich gegen diese Einflussnahme zu wehren ?

Zu wenig. Die Leute sind erst in den letzten Jahren aufmerksam geworden. Dabei verläuft dieser Prozess der Einflussnahme seit langem. Die Russen haben irgendwie nie akzeptiert, dass die Länder, die zum Warschauer Pakt gehörten, nicht mehr unter ihrem Einfluss stehen ;  das ist völlig klar.

Im kommenden Jahr steht die Wahl zum Europaparlament an. Welche Hoffnungen oder Sorgen verbinden Sie hiermit für die Europapolitik ?

Ich hoffe, dass unsere pro-europäischen Parteien vielleicht doch etwas an Stimmen und Mandaten hinzugewinnen. Das ist die einzige Hoffnung, die ich habe. Aber als guter Katholik kenne ich den Unterschied zwischen Hoffnung und Glaube.

Wo sehen Sie die großen Herausforderungen, vor denen das neue Europaparlament stehen wird ?

Die Frage ist in den nächsten Jahren, ob Europa fähig ist, „wesentlich“ zu werden. Was verstehe ich unter „wesentlich“ ? – Heute noch sind die Außenpolitik, Verteidigungspolitik, Sicherheitspolitik und Energiepolitik national. Und was bestimmt man in Brüssel ? – Was ein Naturschutzgebiet werden soll ;  ob ich einen Brotaufstrich „Marmelade“ nennen darf oder nicht ;  oder ob ein köstlicher Käse aus der Tatra, Ostipok, unter dem slowakischen oder polnischen Namen auf dem Markt geführt wird. Wir sollten radikal, aber wirklich radikal Veränderungen vornehmen :  Alle diese Dinge, die nicht unbedingt notwendig gemeinsam gelöst werden müssen, sollten wir zurückgeben an die Staaten, manchmal sogar Regionen. Demgegenüber müssen Außen-, Verteidigungs-, Sicherheits- und Energiepolitik vergemeinschaftet werden, damit die EU wesentlich wird.

Schließlich :  Vielfach wird zudem bemängelt, dass es Europa an Visionen fehle. Benötigen wir für eine verstärkte Integration der EU ein verstärktes Bewusstsein für die kulturellen und geistigen Wurzeln Europas ?

Ich hasse diese Phrasen. Wichtig wäre, dass wir nüchtern überlegen :  Was bringen wir durch ?  Wie können wir Europa vereinigen ?  Wo sind die wirklichen Schwierigkeiten ?  Einfach Tacheles reden, statt große Reden zu halten. Die Lage ist viel zu ernst, als dass wir noch Zeit verlieren könnten.

*  Die Zerschlagung einer Studentendemonstration am 17. November 1989 und die damit einhergehende Verhaftung von ca. 600 Personen wurden zum Initial der „Samtenen Revolution“.
**  Tomio Okamura, 1972 in Tokio geboren, Unternehmer und Politiker japanisch-­tschechischer Abstammung, gründete 2015 die rechtsextreme Partei „Svoboda a přímá demokracie“ (Freiheit und direkte Demokratie), mit der er 2017 ins tschechische Parlament einzog.