Ein Forschungsprojekt erhellt das Schicksal eines Rosa-Winkel-Häftlings im KZ Stutthof
Von Piotr Chruścielski
Bei seinem Bemühen, das Schicksal eines ehemaligen Häftlings des KZ Stutthof genauer zu erfassen, war der Verfasser dieses Beitrags auf die Spur einer Ostpreußin gestoßen. Was der wissenschaftliche Mitarbeiter der Gedenkstätte Stutthof nur vermutete, erwies sich als Faktum : Gisela Keitz, eine pensionierte Lehrerin aus Vatterode im Mansfelder Land, ist die Nichte des Häftlings Fritz Pehwe, der im Zuge der Lager-Auflösung im April 1945 aus dem KZ bei Danzig über die Ostsee nach Neustadt in Holstein „evakuiert“ wurde. Ein Brief des Autors versetzte Gisela Keitz in Erstaunen, weil das Schicksal ihres Onkels jahrelang im Verborgenen gelegen hatte. Dass er in einem Konzentrationslager in Haft gewesen war, wusste so gut wie keiner in der Familie. – Erst jetzt haben beide begonnen, sein Schicksal zu rekonstruieren und werden neuerdings auch noch von seinem Pflegesohn Dieter Schröder unterstützt, der seine eigenen Erinnerungen mit in das Forschungsprojekt einzubringen bereit ist.
Fritz Pehwe kam am 21. März 1906 im ostpreußischen Ambraskehmen (von 1938 bis Kriegsende »Krebsfließ«) zur Welt. Er stammte aus bescheidenen Verhältnissen. Das Leben der neunköpfigen Familie war von vielen Entbehrungen geprägt. Da Fritz’ Mutter sehr früh gestorben war und sein Vater kurz nach dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges von den Russen verschleppt wurde und niemals zurückkehrte, musste sein ältester Bruder für die Erziehung der Geschwister sorgen. Ebenso wie seine beiden Schwestern lernte Fritz das Schneiderhandwerk. In der Kleinstadt Eydtkuhnen (1938 bis 1945 »Eydtkau«) betrieb er eine Herrenschneiderei. »Ganz genau habe ich noch einen Besuch bei Onkel Fritz in Erinnerung in seiner Werkstatt. Er saß im Schneidersitz auf einem Tisch und nähte an einem Kleidungsstück. Das war für mich sehr ungewöhnlich, unvergesslich ! « – erinnert sich die heute 82-jährige Gisela Keitz. Er war ein guter Handwerker. Zu seinen Stammkunden gehörten bekannte und wichtige Leute der Stadt.
Fritz war Mitglied der NSDAP, gehörte zum lokalen Männergesangverein und war Vorsitzender des städtischen Schwimmklubs. Über sein Privatleben wurde allerdings »gemunkelt« : Man wusste, dass Fritz intime Verhältnisse mit Männern unterhielt. Da homosexuelle Beziehungen unter Strafe standen, wurden Fritz diese Bekanntschaften zum Verhängnis. Am 25. Mai 1938 verhaftete ihn die Kriminalpolizei. Der 32-jährige Mann wurde in einem Prozess in Insterburg zu vier Jahren Zuchthaus verurteilt. In seinem Urteil vom 18. Oktober 1938 bezeichnete das Landgericht die Neigungen des Verurteilten als »verbrecherisch«. Dem jungen Schneider wurden die bürgerlichen Ehrenrechte aberkannt. Er wurde auch aus der Partei und allen anderen Organisationen ausgeschlossen. »Nie wurde [in unserer Familie] ein einziges offenes Wort über Onkel Fritz’ Homosexualität gesprochen. Das Wort kam bei unserer Erziehung gar nicht vor, aber irgendetwas haben wir in dieser Richtung vermutet« – sagt Gisela heute. Als Fritz plötzlich aus dem Familienleben verschwand und längeres Schweigen nicht mehr möglich war, wurde den Kindern gesagt, dass Onkel Fritz eine neue »Arbeitsstelle bei Danzig« gefunden habe.
Dem Urteil lag der im Juni 1935 verschärfte Paragraph 175 des Reichsstrafgesetzbuches zugrunde, demgemäß sexuelle Handlungen zwischen Männern strafbar waren : »Ein Mann, der mit einem anderen Mann Unzucht treibt oder sich von ihm zur Unzucht missbrauchen lässt, wird mit Gefängnis bestraft«. Hinter Paragraph 175 hatten die Nationalsozialisten zusätzliche Vorschriften eingefügt, die sogenannte »schwere Unzucht« unter Strafe stellten. Mit Zuchthaus bis zu zehn Jahren waren nun homosexuelle Handlungen zu bestrafen, zu denen es »unter Missbrauch einer durch ein Dienst-, Arbeits- oder Unterordnungsverhältnis begründeten Abhängigkeit« kam. Auch sexuelle Handlungen mit Jugendlichen unter 21 Jahren und homosexuelle Prostitution galten als »schwere Unzucht«. Mit dieser Novellierung fügten die Nationalsozialisten ihren Bemühungen um »Rassenhygiene« einen weiteren, wichtigen Programmpunkt hinzu. Die gesetzliche Kriminalisierung, Kastrationen, Einlieferungen in Konzentrationslager sowie Einsätze in Strafbataillonen dienten dabei als Vorbeugungs- und Erziehungsmaßnahmen. In den Jahren von 1933 bis 1945 wurden schätzungsweise 50.000 Urteile wegen »widernatürlicher Unzucht« gefällt. Ca. 6.000 Männer wurden in Konzentrationslager eingeliefert. Ungefähr 60 Prozent der Männer kamen dort ums Leben.
Seine Haftstrafe verbüßte Fritz im Zuchthaus Wartenburg. Am 2. Juni 1942 sollte er planmäßig freigelassen werden. Doch im Einklang mit den einschlägigen Richtlinien hatte die Leitung der Strafanstalt die Staatliche Kriminalpolizei in Königsberg über die bevorstehende Entlassung informiert. Fritz wurde kurz darauf in das Polizeigefängnis in Tilsit überführt. Die Grundlage für dieses Verfahren bildete der Runderlass des Reichssicherheitshauptamtes vom 12. Juli 1940, nach dem »alle Homosexuellen, die mehr als einen Partner verführt haben, nach ihrer Entlassung aus dem Gefängnis in polizeiliche Vorbeugungshaft zu nehmen« waren. In einem für Fritz verfassten »kriminellen Lebenslauf« ist vermerkt : »Er verspricht zwar, nicht wieder straffällig zu werden, falls er entlassen würde, doch liegen keine Tatsachen vor, die einen Rückfall mit einiger Sicherheit ausschließen würden. Seine Belassung auf freiem Fuße würde immerhin eine Gefahr für die Öffentlichkeit bedeuten«. Am 12. Juni 1942 wurde für den homosexuellen Schneider aus Eydtkuhnen eine unbefristete Vorbeugungshaft angeordnet : »Besserung ist durch längere Unterbringung in einem KL [so die offizielle Bezeichnung für Konzentrationslager] zu erwarten«.
Am 1. August 1942 verließ Fritz das Polizeigefängnis in Tilist und wurde über Königsberg, Marienburg und Danzig in das KZ Stutthof überstellt. Da die Lagerdokumentation nicht vollständig erhalten ist, lässt sich sein Leben im Lager nur ansatzweise rekonstruieren. Fritz erhielt die Häftlingsnummer 15553 und die Kategorie »homosexuell«. Er war in der Effektenkammer eingesetzt. Dort schneiderte er Uniformen für die SS-Wachmannschaft, arbeitete Militärkleidung um und bügelte die Kleidung der Häftlinge, die aus dem Lager entlassen wurden. Die Arbeit, die er verrichtete, war nicht kräftezehrend, entsprach seinen beruflichen Qualifikationen und war für den Lagerbetrieb wichtig. Das alles machte Fritz’ Leben im KZ erträglicher und reihte ihn in die Gruppe der privilegierten Häftlinge ein, auch wenn er jeden Tag Zeuge unvorstellbarer Grausamkeiten war. Die Baracke, in der er arbeitete, befand sich auf dem Gelände des Judenlagers, in dem SS-Schergen insbesondere die Jüdinnen furchtbaren Torturen aussetzten. Im Mai 1944 fragte das Reichskriminalpolizeiamt die Lagerkommandantur Stutthof, ob Fritz »inzwischen entmannt oder ein Entmannungsverfahren eingeleitet worden« war. Die Antwort auf das Schreiben war negativ.
Von den ersten Wochen des Jahres 1945 an befand sich das Lager Stutthof in Auflösung. Angesichts der heranrückenden sowjetischen Truppen wurde am 25. Januar 1945 die »Evakuierung« der Häftlinge Richtung Westen angeordnet. Sie betraf ca. 11.000 KZ-Insassen im Hauptlager und ungefähr 21.000 Häftlinge, die sich in Nebenlagern befanden. Fast 18.000 der »evakuierten« Häftlinge kamen ums Leben. Fritz wurde zunächst von der Verlegung nach Westen ausgeschlossen. Er und seine Mithäftlinge, die in der Effektenkammer eingesetzt waren, mussten auf Befehl der SS-Wachmänner bei der Sicherung und Verschickung von geraubtem Häftlingseigentum helfen. Gleichzeitig bemühte sich die Lagerkommandantur darum, möglichst viele Dokumente zu vernichten. Fritz’ Häftlingspersonalakte ist dem Zerstörungswillen des SS allerdings entgangen. Gerade seine Unterlagen gewähren somit einen Einblick in die Verfahrensweise gegenüber den in der NS-Zeit verfolgten Homosexuellen.
Nach einem Befehl von Heinrich Himmler vom 14. April 1945 sollten auch die restlichen KZ-Häftlinge auf keinen Fall in die Hände der Russen fallen. Im Lager Stutthof, das in wenigen Tagen von sowjetischen Truppen besetzt zu werden drohte, wurde eine weitere »Evakuierung« durchgeführt, von der nun auch Fritz betroffen war. Insgesamt wurden ungefähr 5.000 Häftlinge über die Ostsee verfrachtet, von denen ca. 3.000 überlebten. Am 25. April 1945 wurde Fritz zusammen mit ca. 3.300 anderen Häftlingen übers Meer zunächst auf die Halbinsel Hela gebracht, um von dort weiter nach Lübeck verlegt zu werden. Die Häftlinge wurden auf vier Barken verteilt, die in einem schlechten technischen Zustand und für eine Fahrt über die offene See nicht geeignet waren. Unzureichend verpflegt und völlig entkräftet, ließen sich die KZ-Insassen ins Ungewisse fahren. Zwei Kähne kamen in der Lübecker Bucht an. Einer davon war die Barke »Wolfgang«, auf der sich auch Fritz befand. Am 1. Mai 1945 erreichte sie die Reede in Neustadt. Nach einem Massaker am Strand von Pelzerhaken, das den Tod von ca. 200 Häftlingen forderte, und während noch die mit Insassen aus dem KZ Neuengamme beladenen Schiffe Cap Arcona und Thielbeck bombardiert wurden, konnten die Überlebenden aus dem KZ Stutthof, darunter auch Fritz, am 3. Mai 1945 von alliierten Truppen befreit werden.
Die Nachkriegsjahre brachten Fritz Pehwe und anderen vom Nazi-Regime verfolgten Homosexuellen nicht einmal eine symbolische Wiedergutmachung. Der Paragraph 175 blieb in Kraft. Nach dem Bundesentschädigungsgesetz konnte Entschädigung nur denjenigen NS-Opfern gewährt werden, die aus politischen, rassischen, religiösen oder weltanschaulichen Gründen verfolgt worden waren. Fritz blieb mit seinen beklemmenden Erfahrungen alleine und musste sich in die damalige Realität einfügen. 1953 heiratete er die Kriegswitwe Berta Schröder. Gemeinsam betrieben sie in Neustadt in Holstein eine Schneiderwerkstatt. Ihren Adoptivsohn Dieter zog Fritz wie ein eigenes Kind auf. Ob Fritz’ Geschwister Kontakt mit ihm suchten ? Ob er bemüht war, den Kontakt mit der Familie wiederherzustellen ? Gesichert ist, dass eine Cousine von Gisela Fritz und seine neue Familie 1954 in Neustadt besuchte. Bis dahin war das wohl der erste Moment, in dem er in die Familie Pehwe zurückkam. Allerdings nur für kurze Zeit. Er starb am 6. Februar 1961.
Erst 2016 trat er wieder aus dem Schatten der Vergangenheit heraus : »Der Onkel ist durch Sie eigentlich erst richtig zu unserem Onkel und zu einem echten Familienmitglied geworden« – schrieb eine der Töchter von Gisela in einer E-Mail an den Verfasser. Im August 2016 besuchte Gisela die Gedenkstätte Stutthof. Es war ein sehr persönlicher Besuch. In der Ausstellung in einer der erhaltenen Häftlingsbaracken bekam Gisela ein Foto von Fritz zu Gesicht, das im Gefängnis Tilsit kurz vor seiner Überführung ins KZ Stutthof aufgenommen worden war. Auf ihrer Reise zu dem Ort, den das Schicksal so tragisch mit dem Leben ihres Onkels verknüpft hatte, begleiteten sie die Worte ihrer beiden Töchter : »Mama, es ist jetzt so, als würdest du ihn in die Familie zurückholen«.
Anfang Januar 2017 wurde schließlich überraschend ein neues Kapitel aufgeschlagen. Bei Gisela meldete sich telephonisch Fritz’ Pflegesohn Dieter. Beide trafen sich in Vatterode : »Es hat mich natürlich schon sehr mitgenommen, als ich von Gisela erfuhr, dass mein Vater homosexuell war. Damit habe ich überhaupt nicht gerechnet. Er hat ja schließlich meine Mutter geheiratet« – erklärt der 74-jährige Mann. Dennoch will er die Geschichte seines Pflegevaters nicht tabuisieren. Er plant, noch dieses Jahr die Gedenkstätte Stutthof aufzusuchen und das Forschungsprojekt des Verfassers zu unterstützen, das zum Ziel hat, die Schicksale der deutschen und österreichischen Häftlinge im Lager Stutthof zu untersuchen. Dabei wird Fritz’ Schicksal eines unter den vielen Einzelschicksalen sein, die der Autor in den Vordergrund rückt, um auch den in der Forschung wenig bekannten Aspekt der deutschen Häftlinge in der Geschichte des KZ Stutthof prägnant zu schildern.