Von Tilman Fischer

Die MS Wilhelm Gustloff ist ein herausragender »Erinnerungsort« der jüngeren deutschen Geschichte, weil er kompakt das Gedenken an die Flucht der Ostdeutschen am Ende des Zweiten Weltkriegs repräsentiert. Dieses Schiff ist zum Inbegriff für menschliches Leid, zerstörte Hoffnungen und ein unerbittliches Schicksal geworden, das in einer einzigen Nacht eine erschreckend große Zahl von Wehrlosen – vor allem von Frauen und Kindern – ereilte. Deshalb ist den Augenzeugenberichten der wenigen Überlebenden stets große Beachtung geschenkt worden, und viele andere, die entlang der Ostsee flüchteten, haben, so fern sie vielleicht auch der Gustloff tatsächlich geblieben sein mögen, ihre eigene Geschichte mit derjenigen des durch russische Torpedos versenkten früheren KdF-Kreuzfahrtschiffes verwoben. Das enge Ineinandergreifen von Rettung und Untergang, das sich im Narrativ der Flüchtlinge ausprägt, machte den Erinnerungsort der Gustloff-Katastrophe bis heute auch zu einem zentralen Element des bundesdeutschen Diskurses um den Zweiten Weltkrieg, um das Abwägen von Recht und Unrecht und um den Anspruch, Deutsche nicht nur als Täter, sondern auch als Opfer zu verstehen. Die Gustloff, nur noch ein schwer zugängliches Wrack am Boden der Ostsee, hat als Symbol somit bis in die Gegenwart hinein nichts von ihrem Schrecken wie von ihrer Faszination eingebüßt. Dass sie so unangefochten auch weiterhin im Fokus der Aufmerksamkeit steht, ist nicht zuletzt das Verdienst Heinz Schöns: Er war der privilegierte Zeitzeuge des Untergangs und zugleich der Chronist dieses Schiffes schlechthin.

Es gibt Historiker, die sich besondere Verdienste um die Erforschung einzelner historischer Phänomene zu erwerben vermochten. Es gibt Zeitzeugen, die durch ihre authentischen Berichte vergangenen Ereignissen ein Gesicht zu geben vermochten. Und es gibt Publizisten, die es immer wieder vermochten, die Erinnerung an einzelne dieser Ereignisse in der Öffentlichkeit lebendig zu erhalten. In manchen Fällen vereinen Persönlichkeit zwei, in seltenen Fällen alle drei dieser Vermögen. Einer von ihnen war Heinz Schön, der am 3. Juni 1926 im niederschlesischen Jauer das Licht der Welt erblickte.

Die letzten Monate des Zweiten Weltkrieges mit Flucht und Vertreibung der Ostdeutschen erlebte der Schlesier im südlichen Ostseeraum, wo er Zeuge der größten Schiffskatastrophe in der Seefahrtsgeschichte überhaupt wurde: des Abschusses und Untergangs der Wilhelm Gustloff am 30. Januar 1945. Nur einen halben Monat nach der eigenen Rettung ging der junge Schön wieder an Bord: Das Kommando führte ihn auf die General San Martin, auf der er elf weitere Transporte von Flüchtlingen begleitete, die ihn 22 mal über das »Grab der Wilhelm Gustloff« führten. Es sollten noch 46 Jahre vergehen, bis er selbst an einem Tauchgang zum Schiffswrack teilnehmen konnte.

Auf das Unglücksschiff fixiert

Wie die Kriegserlebnisse sein weiteres Leben bestimmen sollten, hat der westpreußische Literaturnobelpreisträger Günter Grass beschrieben, der Schön in seiner Novelle Im Krebsgang (Göttingen 2002) ein literarisches Denkmal setzte: »Sein Werdegang ist wie meiner auf das Unglücksschiff fixiert. Knapp ein Jahr vor Kriegsende kam er als Zahlmeisterassistent auf die Gustloff. Eigentlich hatte Heinz Schön nach erfolgreichem Aufstieg in der Marine-Hitlerjugend zur Kriegsmarine gewollt, doch musste er, seiner schwachen Augen wegen, bei der Handelsmarine anmustern. Da er den Untergang des KdF-Passagier-, dann Lazarett-, darauf Kasernen- und schließlich Flüchtlings-transportschiffes überlebte, begann er nach dem Krieg alles zu sammeln und aufzuschreiben, was die Gustloff in guten und schlechten Zeiten betraf. Er kannte nur dieses eine Thema; oder es hatte einzig dieses Thema von ihm Besitz ergriffen. […] Alles hatte er aufgelistet: die Anzahl der Kabinen, die Unmengen Reiseproviant, die Größe des Sonnendecks in Quadratmetern, die Zahl der kompletten und der am Ende fehlenden Rettungsboote und schließlich – von Buchauflage zu Buchauflage steigend – die Zahl der Toten und Überlebenden.«

Bereits 1945 – neben seiner Arbeit bei der Reederei der Gustloff, der Hamburg-Südamerikanischen Dampfschiffahrts-Gesellschaft – führte Schön erste Gespräche mit Besatzungsangehörigen, etwa Kapitän Friedrich Petersen. Später – als Student in Göttingen und 1953 bis 1990 im Dienst der Stadt Herford – setzte er die Aufarbeitung fort. Seine Sammlungs- und Forschungstätigkeiten waren für Schön Grundlage eines fast 65 Jahre umspannenden publizistischen Wirkens: Dieses begann mit dem Erscheinen der Reportage »Die Wilhelm Gustloff-Katastrophe wie sie wirklich war« ab dem 20. Februar 1949 in der Hannoveraner Wochenzeitung Heim und Welt. Nur drei Jahre später folgte die erste Monografie: Der Untergang der Wilhelm Gustloff – Tatsachenbericht eines Überlebenden. Die zweite – Die letzte Fahrt der Wilhelm Gustloff – folgte 1960. Noch im Jahr seines Todes erschien posthum das gemeinsam mit Jürgen Kleindienst herausgegebene Buch Pommern auf der Flucht 1945. Rettung über die Ostsee aus den Pommernhäfen Rügenwalde, Kolberg, Stettin, Swinemünde, Greifswald, Stralsund und Saßnitz. In den dazwischenliegenden Jahrzehnten erschienen Standardwerke zur Vertreibung im Ostseeraum – heraus sticht die 1983 in erster Auflage veröffentlichte Dokumentation Ostsee 45 – Menschen, Schiffe, Schicksale.

»Forschungsstelle Ostsee«

Im Laufe der 1960er/70er Jahre war es Heinz Schön möglich, seine Arbeit in den Dienst der staatlich geförderten Aufarbeitung von Flucht und Vertreibung zu stellen und mit seiner Expertise zu ihrem Fortschreiten beizutragen. An diese Zeit erinnert Schön im Vorwort zur 2008 publizierten Dokumentation Die letzte Fahrt der Wilhelm Gustloff: »Durch meine beiden Gustloff-Bücher und meine Berichte in der Presse war Konteradmiral a. D. Conrad Engelhardt auf mich aufmerksam geworden. Der Admiral, Anfang 1945 von Großadmiral Dönitz als ›Seetransportchef Ostsee‹ eingesetzt, hatte von der Bundesregierung Anfang 1962 den Auftrag erhalten, an der Ostakademie Lüneburg eine ›Forschungsstelle Ostsee‹ einzurichten. Diese sollte unter seiner Leitung eine ›Offizielle Dokumentation über die Rückführung von Flüchtlingen, Verwundeten und Soldaten mit Schiffen der Handels- und Kriegsmarine 1944/45 über die Ostsee‹ erarbeiten. Ich stellte mich als ›Ehrenamtlicher Mitarbeiter‹ in den Dienst dieser Aufgabe und wurde sieben Jahre lang zum jüngsten und engsten Mitarbeiter des Admirals, bis 1972 die Auflösung der 6-köpfigen Forschungsstelle erfolgte. Die Bundesregierung hatte sich entschlossen, auf die Herausgabe der Dokumentation zu verzichten. 1981 begann ich mit der publizistischen Auswertung meiner umfangreichen Archivsammlung über die Gustloff und die Flucht über die Ostsee 1944/45.«

Einfluss auf die Erinnerungskultur

Die Früchte dieser »publizistischen Auswertung« bescherten Schön eine über Jahrzehnte anhaltende Prominenz in den einschlägigen Kreisen – bisweilen auch über diese hinaus. Dies liegt womöglich vor allem daran, dass Heinz Schön nicht dabei stehenblieb, unterschiedliche Veröffentlichungen zu realisieren. Vielmehr nahm er in vielfacher Weise Einfluss auf die bundesdeutsche Erinnerungskultur. Als Zeitzeuge trat er in den deutschen Medien – etwa im Magazin Stern oder in einer WDR-Dokumentation, die 1991 während eines Aufenthaltes in Gdingen entstand – und der internationalen Presse in Erscheinung. Zudem beteiligte er sich als wissenschaftlicher Berater an den beiden Filmproduktionen Nacht fiel über Gotenhafen (1959) und Die Gustloff (2008). Der zweite der beiden Filme führte 63 Jahre nach Flucht und Vertreibung zu einem erneuten Anwachsen des historischen Interesses an den Ereignissen am Ende des Zweiten Weltkrieges.

Jährliche Reisen nach Russland

1985 und 1995 führte Schön die Überlebenden der Gustloff-Katastrophe anlässlich des 40. und 50. Jahrestages zu »Erinnerungstreffen« zusammen, die er gemeinsam mit dem Kuratorium Erinnerungsstätte Albatros – Rettung über See e.V. in Damp an der Ostsee organisierte. Zu Begegnungen mit anderen Zeitzeugen kam es jedoch nicht nur in Deutschland: Fast jährlich reiste Schön in den 1990er Jahren nach Russland, wo er etwa Wladimir Kowalenko traf, der als Offizier auf der S13 gedient hatte – dem U-Boot, das die Gustloff versenkte. 1992 folgten zwei Begegnungen mit Wladimir Kourotschkin, der die Torpedos auf das Flüchtlingsschiff abgefeuert hatte – und bei der ersten Aussprache die hohe Zahl ziviler Opfer nicht glauben konnte. An die nächste Begegnung erinnert sich Schön folgendermaßen: »Was ich ihm vor zehn Wochen über den Untergang der ›Gustloff‹ erzählt hatte, hatte ihn Tage und Nächte bis in die Träume verfolgt. Als wir uns verabschiedeten, sagte er zu mir: ›Der Krieg ist eine schlimme Sache. Sich gegenseitig umbringen und Frauen und Kinder töten  – wozu? Es muss andere Wege geben, ohne Blutvergießen miteinander zu leben.‹ Späte Einsicht eines alten Mannes, der sein Leben lang Kommunist und leidenschaftlicher Soldat gewesen war.«

Mit seinen Verdiensten um die Aufarbeitung der Gustloff-Katastrophe erwarb sich Schön ebenso Ansehen in der Fachwelt wie unter den Betroffenen von Flucht und Vertreibung. Nicht nur, dass er bis ins hohe Alter ein begehrter Referent bei unterschiedlichen Veranstaltungen war: 2008 erhielt Schön mit der Ehrenplakette die höchste Auszeichnung des Bundes der Vertriebenen. Bereits 1984 hatte ihm die Landsmannschaft Westpreußen den Marienburg-Preis verliehen. Auch die Bundesrepublik Deutschland würdigte das Wirken Schöns, indem der Bundespräsident ihm 1986 das Bundesverdienstkreuz am Bande verlieh.

Am 7. April 2013 starb Heinz Schön im nordrhein-westfälischen Bad Salzuflen.