Vor 110 Jahren eröffnet: Die Zoppoter Waldoper

Von Alexander Kleinschrodt

Im Wald oberhalb von Zoppot an der Ostsee befindet sich die Opera Leśna. Als Zoppoter »Waldoper« war diese Freilicht­bühne in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts Schauplatz vielbeachteter Opernfestspiele. Nach 1945 wurde dieses »Bayreuth des Nordens« für viele Menschen aus dem ehema­ligen Westpreußen zu einem Gegenstand von Stolz und Nostalgie. Dennoch blieb seine Geschichte weitgehend unbekannt.

Magisch und märchenhaft, wenigstens aber herausragend und unvergesslich: So oder ähnlich lauten die Attribute, die sich in zeitgenössischen Berichten und rückblickenden Erzählungen über die Zoppoter Waldoper finden lassen. Wegen der Aufführungen der Musikdramen Richard Wagners, die hier in den zwanziger und dreißiger Jahren stattfanden, war immer wieder von einem »Bayreuth des Nordens« die Rede. Die Bezeichnung ist aufschlussreich, nicht nur, was die offenbar hohe künstlerische Qualität der Waldoper angeht. Ebenso wie bei den Wagner-Festspielen in Oberfranken lässt sich ihre Geschichte nicht erzählen, ohne dass auf größere Zusammenhänge, auf Politik und Kulturgeschichte, kurz :  auf sich wandelnde Rahmenbedingungen eingegangen würde.

Erfolgreicher Beginn

Die heutige Opera Leśna befindet sich noch am selben Ort wie die historische Waldoper. Etwa zwei Kilometer ist sie von der Uferpromenade in Zoppot entfernt. Noch immer führt nur eine einzige Zufahrtsstraße von dem zusammen mit Gdingen und Danzig die Dreistadt-Metropole bildenden Ostseebad nach oben in das Waldgebiet, das bis 1945 den Namen Promkenhöhe trug. Die Freilichtbühne selbst ist inzwischen stark verändert. Die eigentliche Bühne war zu Zeiten der Waldoper rund 50 Meter breit und unbefestigt. Die Sängerinnen und Sänger der Opernaufführungen standen also unmittelbar auf dem Waldboden. Natürlich gab es auch einen Orchestergraben und die Zuschauerränge boten Platz für mehrere Tausend Gäste.

Vorbild für die Zoppoter Waldoper soll eine Aufführung von Wagners Siegfried im südfranzösischen Cauterets gewesen sein – unter freiem Himmel und im Beisein des Zoppoter Bürgermeisters Max Woldmann. Das war im Jahre 1908. Bereits 1909 wurde die Bühne im Wald von Zoppot angelegt, am 11. August desselben Jahres wurde sie mit Conradin Kreutzers Oper Das Nachtlager von Granada eröffnet. In der Folge waren, immer unter der Regie des ersten Zoppoter Spielleiters Paul Walther-­Schäffer, unter anderem der Zigeunerbaron von Johann Strauß und Bedřich Smetanas Verkaufte Braut zu erleben.

Ein Qualitätssprung der Aufführungen scheint sich kurz vor dem Ersten Weltkrieg vollzogen zu haben. In der Spielzeit 1914 wurde Carl Maria von Webers Freischütz gegeben. Zur Besetzung dieser Aufführung gehörten Lotte Lehmann und Richard Tauber. Beide sind heute noch bekannt, standen damals aber jeweils gerade am Anfang ihrer Laufbahn. Inzwischen hatte die Zoppoter Waldoper in der Region einige Nachahmer gefunden. Im Danziger Vorort Langfuhr war eine Freilichtbühne eingerichtet worden, ebenso in Elbing. Dort waren zum Teil dieselben Opern zu hören wie in Zoppot. Hier wie dort endete der Spielbetrieb im Laufe des Ersten Weltkriegs, in Langfuhr und Elbing dauerhaft, in Zoppot aber nur vorläufig.

Das goldene Zeitalter

Nach dem Krieg und dem Tod von Paul Walther-Schäffer wurde Hermann Merz, der Leiter des Danziger Theaters, Intendant der Waldoper. Für Einhard Luther, einen in München geborenen Musikjournalisten, der seit den sechzi­ger Jahren als eine Art Chronist der Waldoper in Erschei­nung trat, beginnt hier die goldene Zeit der Waldoper :  Aus dem sommerlichen Kurtheater seien nun »Festspiele ureigenster Prägung« geworden.

Im Sommer 1922 wird Wagners Siegfried gegeben. Hans Knappertsbusch, im selben Jahr zum Leiter der Bayerischen Staatsoper berufen, dirigierte, die Sängerinnen und Sänger kamen zum großen Teil aus den Ensembles der Berliner Opernhäuser. Ausnahme war die Titelrolle :  Sie wurde im Wechsel von Heinrich Knote aus München und Fritz Vogelstrom aus Dresden gesungen. Während in Zoppot anfangs noch eine Ästhetik des »Naturtheaters« leitend war – die Stücke sollten dem Ort angepasst werden, nicht umgekehrt – wurde nun mehr und mehr Aufwand betrieben, um eindrucksvolle Inszenierungen auf die Bühne im Wald bringen zu können. Hermann Merz setzte dabei, den Tendenzen dieser Zeit folgend, oft auf die Wirkung von Massenszenen, für die der weite Bühnenraum die entsprechenden Voraussetzungen bot.

Dank dem Siegfried des Jahres 1922 kam das Ostseebad Zoppot, das gelegentlich schon mit Monte Carlo und der Riviera verglichen worden war, nun zu dem Titel eines »Bayreuths des Nordens«. Tatsächlich konnte Zoppot hier sozusagen in eine Lücke springen, da der Spielbetrieb in Bayreuth selbst nach dem Ersten Weltkrieg erst 1924 wieder aufgenommen wurde. Hinzu kam die Akustik der Bühne im Wald, die als herausragend, ja geradezu unerklärlich geschildert wurde. Alle Feinheiten von Musik und Gesang seien zu hören gewesen, die Sänger seien in der Lage gewesen »eine solch zarte Tonbildung anzuwenden, wie sie sich in manchem Opernhaus mit herber Akustik als wirkungslos erweisen würde«, wie der Dirigent Robert Heger beschreibt.

Waren diese Lobeshymnen nur gelungenes Marketing, das dann angesichts von zu dieser Zeit bereits rund 30.000 Besuchern pro Jahr auch ziemlich erfolgreich gewesen wäre ?  Oder handelt es sich um nachträgliche Verklärung ?  Spielte auch die Tatsache eine Rolle, dass die Waldoper bereits in den zwanziger Jahren von mancher Seite zu einer Art Bollwerk deutscher Kultur stilisiert wurde ?  Immerhin wurde sie in dieser Zeit zu einem Aushängeschild der unter Aufsicht des Völkerbundes stehenden, jedoch zwischen dem Deutschen Reich und Polen höchst umstrittenen Freien Stadt Danzig. Tatsächlich kann man aber feststellen, dass die Kritiken in den zwanziger Jahren oft ­euphorisch ausfielen, und zwar in nationalkonservativen Zeitungen ebenso wie im sozialdemokratischen Vorwärts. Selbst der Danziger Dichter Willibald Omankowski, der als Musikkritiker nicht zur Beschönigung neigte, bescheinigte der Waldoper im Berliner Tageblatt, dass er hier eine Reihe »besonders sorgfältig einstudierter Opernaufführungen« erlebt habe, »zu denen die bedeutendsten Vertreter der Gesangspartien als Solisten herangezogen« worden seien.

»Reichswichtige Festspielstätte«

Eine neue Situation ergab sich in Zoppot unweigerlich, seit die Freie Stadt Danzig im Mai 1933 eine nationalsozialis­tische Regierung erhalten hatte, die aus dem Reich entsprechend gefördert wurde. Im folgenden Jahr wurde die Waldoper zur »reichswichtigen Festspielstätte« erklärt. Ab sofort stand jetzt nur noch Wagner auf dem Spielplan. Das »Bayreuth des Nordens« sollte jetzt anscheinend zu einem »nordischen Bayreuth« im »deutschen Wald« werden, das auch ideologisch auf die Linie des Dritten Reichs einzuschwenken hatte. Auch Einhard Luther schreibt, dass der große Zuschauerraum der Waldoper »manchen der Parteigenossen an die Aufmärsche der Reichsparteitage« erinnert haben könnte. Dennoch betont er in der in den sechziger Jahren erschienenen Schrift Die Zoppoter Waldoper. Nachruf auf ein Kulturphänomen, es sei verfehlt, »die gesteigerte Bedeutung der Waldfestspiele seit der Machtübernahme auf den Einfluss des Regimes zurück­zuführen«. Die Waldoper in dieser Phase nur noch unter politischen Gesichtspunkten zu betrachten, sei zu einseitig. Neu war laut Einhard Luther ab 1934 nur, »dass nunmehr Hermann Merz völlig freie Hand in der Planung der Waldfestspiele« hatte.

Doch Zeugnisse für die Vereinnahmung der Bühne lassen sich leicht finden. So heißt es im Programmheft der Festspielsaison 1934 :  »Es mag wie eine höhere Fügung anmuten, dass im Jubiläumsjahre des Zoppoter Festspiel­gedankens die äußere Weihe und das Hochgefühl durch ein neu erstandenes Deutschland in ganz besonderem Maße zum Erlebnis werden, denn schon vor dem deutschen Schicksalsjahr, da Adolf Hitler ‚Nothung‘ neu schmiedete, stand unsere Waldoper ganz im nationalsozialistischen Gedankengut, war Vorkämpferin und Herold dieser Zeit im Rahmen ihrer Kunst.«

Das Vorhandensein einer deutlichen Grenze zwischen Theaterarbeit und Politik, auf dem Luther besteht, wird in dem genannten Programmheft ausdrücklich verneint, und zwar in direktem Bezug auf den Intendanten. Hermann Merz sei nämlich derjenige gewesen, der »den Ruf der Waldoper nicht nur in künstlerischer Hinsicht, nein, auch in völkisch-deutscher Beziehung, festigte, ausbaute und erweiterte«. Wie politisch Zoppot nun tatsächlich war, wird sich einstweilen nicht klären lassen. Aber konnte eine »reichswichtige Festspielstätte« in einem totalitären Staat überhaupt als unpolitische Angelegenheit aufgefasst werden?

Die Spielzeit 1938 konnte noch einmal mit einem Höhepunkt aufwarten. Zum ersten Male gelangte Wagners Ring des Nibelungen in Zoppot vollständig zur Aufführung ;  und diese Inszenierung wurde im folgenden Jahre – bei den letzten »Vorkriegsfestspielen«, wie es später heißen wird – wiederaufgenommen. Nach Beginn des Zweiten Weltkrieges wurde der Spielbetrieb zunächst fortgesetzt, zuletzt wegen der kriegsbedingten Auflagen nur noch in Form sogenann­ter »öffentlicher Proben«. Im August 1944 ist zum letzten Mal Siegfried zu hören. Im Dezember starb Hermann Merz, nicht durch den Krieg, sondern an Herzversagen.

Weiterleben nach dem Untergang

Mit diesem dramatischen Schlusspunkt endet scheinbar die Geschichte der Waldoper. Doch es gab Fortsetzungen, in Deutschland und in Polen, in der Erinnerung und auch ganz konkret. »Traditionsgemeinschaft Zoppot-Travemünde« war der Name eines 1961 gegründeten Vereins, der die Waldoper gewissermaßen in Schleswig-Holstein lebendig oder zumindest im Gedächtnis erhalten sollte. Zu diesem Zweck wurden dort Konzerte veranstaltet, vor allem wieder mit der Musik von Richard Wagner. Die erste große Veranstaltung dieser Art im Jahre 1963 konnte sogar einen besonderen Zeitzeugen wieder aktivieren :  Der Dirigent Karl Tutein übernahm hier die musikalische Leitung. Er hatte von den zwanziger bis in die vierziger Jahre das Orchester der Waldoper dirigiert und war in der Regel für die Einstu­dierung verantwortlich, auch wenn in den Aufführungen bekanntere Dirigentenkollegen am Pult standen. Tutein wurde fast hundert Jahre alt, er starb 1984 in München.

Die Waldoper wurde, wie man hier sehen kann, zu einem Erinnerungsort. Damit ist kein Denkmal gemeint, das immer wieder aufgesucht wird, sondern ein Markstein im Gedächtnis, ein Orientierungspunkt, an dem von Flucht und Vertreibung Betroffene, die sich nach dem Krieg in den Landsmannschaften organisiert hatten, ihre Erinnerungen ausrichten konnten. Auch im Westpreußen und in Unser Danzig war die Waldoper in dieser Zeit immer wieder ein Thema. Sie wurde als gemeinsamer Bezugspunkt, als Symbol der eigenen Herkunft beschworen und letztlich zu einer Art Legende. Ein »Kulturphänomen des deutschen Ostens, dem in dieser Form nichts zur Seite zu stellen ist«, so beschrieb etwa Einhard Luther die Waldoper im Jahr 1966.

Doch diese enge Bindung an Zoppot blieb hauptsächlich auf die Landsmannschaften begrenzt. Es gelang nicht, das Interesse an der Waldoper in der Bundesrepublik Deutsch­land insgesamt auf eine breitere Grundlage zu stellen. Die Arbeit der Traditionsgemeinschaft Zoppot-Travemünde endete in den 1990er Jahren, nachdem zuvor die Zahl ihrer Mitglieder immer geringer geworden war und es zunehmend schwierig wurde, noch Kulturveranstaltungen zu organisieren, die den früheren Ansprüchen gerecht wurden.

Vor Ort, in Zoppot, ist die Waldoper in den vergangenen Jahrzehnten keineswegs in Vergessenheit geraten. Wie man zum Beispiel in der lokalen Geschichtsschreibung oder in der Denkmalpflege sehen kann, ist in Polen zuletzt eine neue Aufmerksamkeit für die deutsche Geschichte Westpreußens entstanden. Auch die »(deutsche) Erfolgsgeschichte der Zoppoter Waldoper« wird, wie die Musikwissenschaftlerin Sarah Brasack beobachtet hat, »seit den 90er Jahren von polnischer Seite immer vorbehaltloser erzählt« – und sei es auch, um mit dem Verweis auf dieses Erbe die touristische Attraktivität der Stadt zu steigern.

Musikaufführungen hat es in der heute mit einem Zeltdach überbauten Waldoper schon seit der unmittelbaren Nachkriegszeit wieder gegeben. Die Danziger Oper nutzte die Opera Leśna als Spielstätte, und zumindest punktuell ist auch die Musik Richard Wagners an diesen Ort zurück­gekehrt. Zum hundertsten Jubiläum der ersten Waldoper-Produktion wurde 2009 Rheingold aufgeführt, parallel dazu war in Zoppot eine historische Ausstellung zu sehen. Am bekanntesten dürfte allerdings das Sopot Festival geworden sein, das – wie die Traditionsgemeinschaft Zoppot-­Travemünde im Westen Deutschlands – im Jahre 1961 entstand. Auf der Freilichtbühne war nun Popularmusik aller Art zu hören. In veränderter Form besteht dieses Festival bis heute fort. Für die Verehrerinnen und Verehrer der Waldopern-Tradition dürfte solche »leichte Muse« zwar kaum akzeptabel gewesen sein, doch bedeutungslos geworden ist die Opera Leśna deshalb nicht :  Mit den Jahren sind hier Weltstars wie Johnny Cash, Elton John oder Norah Jones aufgetreten.

Eines ist sicher :  Wenn man Westpreußen heute als eine deutsch-polnische Kulturregion verstehen möchte, dann sollte darin auch die Waldoper ihren Platz haben – mit allen Facetten ihrer Geschichte.