Eine Erinnerung an den Germanisten Gustav Roethe

Am 5. Mai 2019 hatte sich der Geburtstag des Altgermanisten Gustav Roethe zum 160. Male gejährt. Noch aus der Perspektive der frühen 1960er Jahre hätte solch ein Jubiläum einen selbstverständlichen Anlass geboten, unmittelbar an diesen in ­seiner Zeit herausragenden Hochschullehrer und einflussreichen Festredner aus Graudenz zu erinnern. Mittlerweile allerdings erscheint es angeraten, ihn differen­zierter in den Blick zu nehmen und sich ihm aus größerer Distanz zu nähern.

Ein bedeutender Gelehrter

Der Lebenslauf Gustav Roethes erweckt den Eindruck einer großen Zielstrebigkeit, wenn nicht inneren Notwendigkeit, und führte ihn zu einigen der höchsten Ehren, die einem Geisteswissenschaftler in der Zeit des deutschen Kaiserr­eichs erwiesen werden konnten. Roethe hatte Klassische Philologie und Germanistik in Göttingen, Leipzig und Berlin studiert, wurde 1881 zum Dr. phil. promoviert und habilitierte sich 1886 in Göttingen. Dortselbst wurde er zunächst 1888 außerordentlicher und nur zwei weitere Jahre später ordentlicher Professor für deutsche Philologie. 1902 wechselte Roethe auf das Ordinariat an der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin. Mehrere renommierte wissenschaftliche Gesellschaften und Akademien ernannten ihn zum Mitglied ;  ab 1911 wirkte er als ständiger Sekretär der Berliner Akademie der Wissenschaften, war von 1922 bis 1926 Präsident der Goethe-Gesellschaft in Weimar und wurde für das akademische Jahr 1923 / 24 zum Rector Magnificus der Berliner Universität gewählt.

Trotz seiner strahlenden Karriere ist es durchaus nicht zwingend, dass der Nachruhm dieses Philologen auch über die engeren, von jüngeren Kollegen sowie Schülern bestimmten wissenschaftlichen Zirkel hinaus im allgemeinen Bewusstsein wachgehalten und dabei gerade der Zusammenhang mit Ostdeutschland – und insbesondere Westpreußen – hergestellt worden ist. Dies bezeugt ein Eintrag, der Roethe noch nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges (und fast 30 Jahre nach seinem Tode) in den 1955 zusammengestellten Ostdeutschen Biographien1  zuteil geworden ist. Dort wird er zwar dem engen Bereich der „Sprachwissenschaft“ zugeordnet, aufschlussreicher Weise liegen seine tatsächlichen Verdienste aber offensichtlich nicht in fachspezifischen Qualifikationen begründet, wird doch eigens darauf hingewiesen, dass er, „abgesehen von vielen kleineren Aufsätzen und Rezensionen, keine größeren Bücher geschrieben“ habe. Demgegenüber wird er als „glänzender Redner“ sowie „Lehrer und Organisator“ eingeführt, und seine Bedeutung soll vor allem darauf beruhen, dass er sich „in vielen Reden und Vorträgen“ bemüht hat, „dem deutschen Volk nach dem verlorenen Krieg seine geistigen Güter zu erhalten und zu bewahren“.

Westpreußen

Was mit diesen „geistigen Gütern“ noch 1955 gemeint sein könnte, wird insbesondere von einer speziell „westpreußischen“ Warte aus rasch plausibel. Gustav Roethe setzte sich mit großer Intensität dafür ein, dass der Kultur und Geschichte der „Ostmarken“ im Deutschen Reich endlich der notwendige Respekt gezollt wird :  „Im Ganzen“, äußert er 1912, „hört für den Stuttgarter und Freiburger Deutschland gen Nordosten noch immer in Berlin auf, und was dahinter liegt, ist dem beneidenswerten Selbstgefühl der Süddeutschen deutsch angestrichenes Rußland, mehr oder minder übertünchte Barbarei“. Dieser Geringschätzung, auf die er sicherlich häufig traf, begegnete er mit einem emphatischen Appell :  „Nicht das Stiefkind, sondern der Stolz ganz Deutschlands sollten jene Lande sein, auf denen sich die größte Kulturtat des deutschen Volkes vollzog.“ (268)

Das Bemühen, das Ansehen der Ostmarken im Reich zu steigern, beruht bei Roethe nicht zuletzt auf seiner eigenen Bindung an diese Region – auf unverstellter Heimatliebe. Diese Empfindungen äußert er in einer anrührenden Passage, die gerade im Westpreußen verdient, vollständig zitiert zu werden:

Aber inniger noch als die Treue gegen die Vergangenheit bewegt uns, die wir zum guten Teil Kinder jener Ostmarken sind, die selbsterlebte Liebe zur deutschen Heimat an Weichsel und Oder, an Pregel und Netze :  wir lieben sie, die gewaltigen Ströme und laubumrahmten großen Seen, die seltsamen Dünen der Ostsee, die stattlichen urdeutschen Niederungsdörfer, die massigen Kirchen mit ihren gestaffelten Giebeln, ihren gliedernden Pfeilern und getünchten Blenden, die mächtigen Burgruinen, die schönen alten Städte, die überall vom Schaffen deutscher Ritter, Bürger und Bauern zeugen. Ich habe es oft genug erlebt, das unbegrenzte Staunen des Westelbiers, den einmal sein Pfad nach Danzig oder Marienburg führte :  warteten seiner dort doch Eindrücke, wie sie Deutschland so kein zweites Mal zu bieten hat. (243)

Diese Grundhaltung gilt für Roethe selbstverständ­licherweise auch – und erst recht – nach dem Ende des Weltkrieges und dem Verlust der Heimat :  „Die alten Ordensstädte im Osten, die herrliche deutsche Stadt Danzig […], für uns sind sie alle deutsch: wir halten ihnen nicht nur wissenschaftlich die Treue.“

Der Schatten der Ideologie

Dass Roethe – gerade bei einer Festrede vor dem Deutschen Ostmarkenverein – die deutschen Ansprüche auf dieses Land vertritt, sich dabei gegen die „polnische Pseudo­wissenschaft“ (244) wendet und behauptet, dass das, „was jene Ostlande heute sind, […] ausschließlich auf der physischen und geistigen Arbeit der Deutschen“ beruht, während „das Slawentum […] keinen Anteil daran“ hat (268), mag aus dem damaligen Stand nationalistischer Auseinandersetzungen und dem bewussten Kampf gegen das „anbrandende Polentum“ erklärlich sein. Nochmals deutlich zugespitzt tritt diese Haltung dann aber nach 1919 / 1920 hervor, nachdem jener Kampf (zumindest vorläufig) verloren war :  „Wir haben“, erklärt Roethe immerhin in der Antrittsrede seines Berliner Rektorats, „die Polen unsrer östlichen Provinzen oft schwächlich verwöhnt, sie vergelten das mit der Vernichtung des reichen deutschen Lebens an der Weichsel“.

Dieser grelle Ton der Agitation steht einem Repräsentanten der Geisteswissenschaften schlecht an. Er verweist aber auf den umfassenden Kontext jenes (wie es noch 1955 hieß) „glänzenden Redners“, der kaum durch Forschungsergebnisse Aufmerksamkeit erregt, sondern sich durch seine vielbeachteten öffentlichen Auftritte – und die jeweils in Einzeldrucken erschienenen Vortragstexte – als führender Propagandist des Kaiserreichs, des Konservativismus und der Einzigartigkeit sowie Überlegenheit der deutschen Kultur und Geschichte zu etablieren vermochte. Zu diesem inneren Widerspruch hat der Aachener Bibliothekar und Germanist Gerhart Lohse, der 1978 nachdrücklich zu einer tiefergehenden kritischen Auseinandersetzung mit Roethes Œuvre aufgefordert hat, festgestellt:

Literatur im Dienste der Politik hat es immer gegeben, auch im deutschen Bereich. […] Roethe freilich ist kein Dichter, er will es auch nicht sein, sondern er ist Literaturwissenschaftler, und er stellt bewußt seine Wissenschaft in den Dienst gezielter politischer Werbung. Dieser Anspruch ist bereits in seinem Ansatz verfehlt, obwohl Roethe nicht der einzige Fall dieser Art in Deutschland ist. Aber so unverhüllt, so massiv und so aggressiv hat man es selten gehört.

Roethes Polemik gegen den Parlamentarismus oder das Studienrecht von Frauen, sein höchst elitäres Bildungs­konzept oder (späterhin) seine verächtliche Ablehnung der Weimarer Verfassung brauchen hier  nicht nochmals detailliert veranschaulicht zu werden. Lohnend wäre es aber, sich – gerade auch hinsichtlich des Rede-Duktus – ein kurzes historisches Tondokument anzuhören, einen Auszug aus einer Ansprache „Zur Verteidigung der deutschen Freiheit“, die Roethe am 4. Februar 1918 gehalten hat (und die vom SWR zum 100. Jahrestag zugänglich gemacht wurde). Dort lässt sich exemplarisch Roethes gewagte Konstruktion verfolgen, bei der Luther, Goethe und Bismarck als tragende Faktoren in Dienst genommen werden und in ihrem Zusammenwirken die unbezweifelbare Überlegenheit Deutschlands begründen sollen. Auf dieser Basis fordert der Redner, dass wir „unbeirrt durch Zeitgeist, Mehrheit, öffentliche Meinung, durch Druck von oben oder unten unsern eigenen Weg gehen, nur unserm Gott verantwortlich und unserm Gewissen“. Dann – und nur dann – kann es den Deutschen gelingen, „diese unsre eigenste innere Freiheit gegenüber den verlockenden Sirenenrufen des Auslandes, die uns zur Demokratie herüberziehen wollen, innerlich mit ganzer Seele festzuhalten“, und nur dann sind sie „berufen, die Pfeiler einer neuen Welt zu bilden und jene rückständige gesellschaftliche Zivilisation Westeuropas im Zeichen der freien Persönlichkeit zu schlagen“.

Gustav Roethes Nachruhm resultierte im Wesentlichen aus seinen entschieden deutschnationalen politischen Stellungnahmen, die durch seinen Status des höchst angesehenen Wissenschaftlers und gleichsam offiziell approbierten Interpreten kultureller und historischer Zusammenhänge hohe Verbindlichkeit und Breitenwirkung gewannen. Dass solch eine Autorität sich zugleich persönlich zu Westpreußen bekannte und sich in der Konfrontation zwischen Deutschland und Polen gänzlich einseitig positionierte – und damit als Intellektueller die scharfe nationalistische Polemik adelte – machte ihn nicht nur in der Zwischenkriegszeit, sondern gerade auch nach dem Zweiten Weltkrieg zu einer Instanz, auf die sich landsmannschaftliche Interessen noch häufig beriefen. Angesichts der bald 100 Jahre, die seit Roethes Tod am 17. September 1926 mittlerweile vergangen sind, rückt freilich die Frage in den Fokus, wie tragfähig und segensreich die „geistigen Güter“ tatsächlich gewesen sind, die er dem deutschen Volk zu „erhalten und zu bewahren“ getrachtet hat ?

Erik Fischer

  1. Ostdeutsche Biographien. 365 Lebensläufe in Kurzdarstellungen, von Götz von Selle, hrsg. vom Göttinger Arbeitskreis, Würzburg: Holzner, 1955. Der Eintrag „Gustav Roethe“ findet sich innerhalb des weitgehend unpaginierten Bandes als Biographie № 250.
  2. Gustav Roethe: Deutsches Geistesleben in den Ostmarken. Vortrag, gehalten im Deutschen Ostmarken-Verein zu Berlin am 22. März 1912, Berlin 1913 ;  wiedergedruckt in :  Ders. :  Deutsche Reden, hrsg. von Julius Petersen, Leipzig 1927, S. 242–268; hier S. 242. Im Folgenden werden die Belege zu diesem Vortrag stets unmittelbar im Text genannt.
  3. Gustav Roethe: Wege der deutschen Philologie. Rede beim Antritt des Rektorats der Friedrich-Wilhelm-Universität am 15. Oktober 1923, Berlin :  Emil Eberling, 1923 ;  wiedergedruckt in : Ders. :  Deutsche Reden (Anm. 2), S. 439–456; hier S. 444
  4. Ebda
  5.  Gerhart Lohse :  „Held und Heldentum. Ein Beitrag zur Persönlichkeit und Wirkungsgeschichte des Berliner Germanisten Gustav Roethe (1859–1926)“. In :  Literatur und Theater im Wilhelminischen Zeitalter, hrsg. von Hans-Peter Bayerdörfer, Karl Otto Conrady und Helmut Schanze, Tübingen, 1978, S. 399–423; hier  S. 406
  6.  www.swr.de/swr2/wissen/archivradio/4,aexavarticle-swr-19916.html