Ein Forschungs- und Ausstellungsprojekt des Marienburger Schlossmuseums

Von Monika Czapska

Im Oktober 2020 wurde im Marienburger Schlossmuseum die Ausstellung Bilde von Prage. Die böhmische Steinskulptur im „Schönen Stil“ um 1400 im Ordensland Preußen eröffnet. Die ungünstige Entwicklung der weltweiten Covid-19-Pandemie machte es dann aber unausweichlich, dass die Schau knapp eine Woche nach der Eröffnung bereits wieder geschlossen werden musste. Mitte Februar wurde sie zwar wiedereröffnet und ist noch bis Ende März zugänglich; die lange Schließung bedeutet aber trotzdem einen schwerwiegenden Verlust, weil diese Ausstellung in polnischen Museen die erste ist, die Kalksteinskulpturen aus dem Gebiet des Ordenslandes in solch einer Breite präsentiert.

Das Forschungsprojekt

Zugleich dokumentiert und veranschaulicht diese Ausstellung die Ergebnisse eines Forschungsprojekts, das im Schlossmuseum 2018 initiiert worden war. – Die Skulpturen des „Schönen Stils“, die an der Wende vom 14. zum 15. Jahrhundert vermutlich als Importe nach Preußen gekommen waren, hatten die Mitarbeiter bereits über längere Zeit interessiert, weil das Museum in seinen Sammlungen eines der wichtigsten Beispiele dieser Gruppe von plastischen Arbeiten besitzt: die Skulptur Christus im Garten Gethsemane (MZM/Rz/19). Die ersten intensiveren Forschungen zur Provenienz dieses Kunstwerks reichen schon bis ins Jahr 2012 zurück. Die Ergebnisse von Materialanalysen haben in dieser Zeit gezeigt, dass der Stein, aus dem diese Skulptur herausgearbeitet wurde, aus einem Steinbruch im mittleren Nordböhmen stammt. Genauere Fragen zur Provenienz waren damit aber noch nicht beantwortet, da nicht zu klären war, ob diese Skulptur selbst – oder nur das Rohmaterial – aus Böhmen importiert worden war. Schon an dieser Stelle wurde somit deutlich, dass die Erforschung dieses Komplexes auf eine breitere Grundlage gestellt werden müsste.

Forschungen über das Entstehen und die Verbreitung von Stilformen haben eine lange Tradition, die bis zu den Anfängen der Kunstgeschichte als einer wissenschaftlichen Disziplin zurückreicht. Dabei kommen verschiedene Forschungsmethoden zum Einsatz – von der Analyse und Interpretation der formalen und stilistischen Spezifika und deren Entwicklung bis zu Beobachtungen, die auf Phänomene des Kulturtransfers oder der so genannten Kunstgeographie gerichtet sind. Große Bedeutung kommt in diesem Bereich der technologisch gestützten Materialanalyse zu. Deren Ergebnisse können in der Diskussion über die Provenienz und Datierung von Kunstwerken wertvolle Argumente liefern. Für Objekte, die aus Stein hergestellt werden, profitieren die Forschungen innerhalb eines weiten Spektrums verschiedener methodischer Ansätze in besonderem Maße von der beschreibenden Gesteinskunde, der Petrographie. Sie ist bei der differenzierten Bestimmung der mineralischen Zusammensetzung sowie der Struktur und Textur von Steinproben ebenso hilfreich wie bei der Überprüfung der Authentizität eines Objekts, der jeweiligen Herstellungsverfahren und der möglichen Herkunftsorte.

Schon seit zwei Jahrzehnten werden die Skulpturen im böhmischen „Schönen Stil“, die im Mittelalter in ganz Europa verbreitet waren, meistens anlässlich eines Ausstellungsprojekts oder im Rahmen einer konservatorischen Maßnahme petrographisch untersucht. Die Ergebnisse dieser Forschungen, die die Verwendung von übereinstimmenden Materialien belegen, sind von erheblicher Beweiskraft. Sie erlauben es, die Spuren ihrer Provenienz bis zu den Lagerstätten spezieller Steinbrüche in Böhmen zurückzuverfolgen und bestätigen dadurch die wissenschaftliche These, dass Prag, zur Zeit der Luxemburger die Hauptstadt des Reiches, nicht nur politisch einflussreich war, sondern auch kulturell auf andere Regionen ausstrahlte.

Auf der Grundlage der bereits vorgenommenen Analysen sollte das aktuelle Marienburger Forschungsprojekt zum böhmischen „Schönen Stil“ und seiner Ausprägung in der „Steinskulptur in Preußen während der Jahre von 1380 bis 1400“ nun das Gesamtfeld der Fragestellungen und Objekte systematisch erfassen und erschließen. Diesem Aufgabenfeld widmete sich ein internationales und interdisziplinär besetztes Forschungsteam aus Museumsmitarbeitern und Konservatoren sowie Kunsthistorikern und Historikern aus mehreren Universitäten. Dabei war das Vorhaben nicht nur anspruchsvoll, sondern auch regelrecht wegweisend, denn es ging um nichts weniger, als sämtliche noch auf dem Gebiet des Ordensterritoriums existierenden Kalksteinskulpturen der fraglichen Stilperiode gleichermaßen nach den Aspekten des Materials, der Gestaltungstechnik, der Form und der Funktion zu erschließen.

Von der Gruppe der in Frage stehenden Kunstwerke sind 15 Objekte bis heute erhalten geblieben, zwei weitere sind nur noch von Archivfotos bekannt. Zu diesen gehört – als besonders schmerzlicher Verlust – die Schöne Madonna aus Thorn. Diese Skulptur diente viele Jahre lang als Fundament der wissenschaftlichen Debatten über die stilistischen Grundlagen und Spezifika des mitteleuropäischen Kreises von „Schönen Madonnen“. Die auch in der neuesten Literatur weiterverfolgte These, dass es sich bei ihr um einen Import aus Prag gehandelt hätte, wird sich allerdings ohne die Möglichkeit, mit dem Original zu arbeiten, nicht mehr verifizieren lassen. Ein großes Forschungspotential eröffnen demgegenüber die genauen Vergleichsanalysen der anderen Skulpturen, die in Kirchen oder Museen aufbewahrt werden. Im Einzelnen handelt es sich um Werke an den folgenden Orten:

  • in Thorn die Büste des Mose von der Konsole der Schönen Madonna, das Relief der Himmelfahrt Maria Magdalena und der Vir Dolorum (Schmerzensmann);
  • in Danzig die Pietà und die Madonna mit dem Jesuskind (in der Marienkirche) sowie eine weitere Pietà und zwei Heilige aus dem so genannten „Traueraltar“ sowie die ursprünglich als Patronatsfigur im nicht mehr bestehenden Elisabeth-Hospital beheimatete Heilige Elisabeth (im Nationalmuseum);
  • in Neumark die Pietà ;
  • in Berent die Pietà ;
  • in Pelplin (im Diözesan-Museum) die Heilige Barbara ;
  • in Marienburg die Heilige Elisabeth (in der Johannis-Kirche) sowie die bereits genannte Skulptur Christus im Garten Gethsemane (im Schlossmuseum).

Zu dieser Gruppe zählt zuweilen auch noch die kleine Pietà aus der Kirche der Heiligen Barbara in Krakau, weil sie in der älteren Literatur als Import aus Preußen betrachtet worden ist.

Das Hauptziel des Forscherteams war es, die Hypothesen über die Herkunft der erhaltenen Kunstwerke möglichst zu verifizieren, die Beziehungen, die zwischen ihnen bestehen, zu entdecken und das gesamte Corpus in den europäischen Kontext einzubetten. Die Basis der Untersuchungen bildete die genaue Erkundung aller Materialien, vor allem durch breite petrographische Analysen, die sich auch auf Verfahren der SEM (Scanning electron microscopy) und XRD (X-Ray diffraction) stützten. Sämtliche Proben ließen sich somit aufgrund identischer methodischer Verfahrensweisen nach allen Parametern vergleichend analysieren, so dass sich schließlich ein kohärentes Gesamtbild ergab. Dort wurden auch noch diejenigen Ergebnisse integriert, die bereits bei früheren petrographischen Untersuchungen erbracht worden waren: Ende der 1990er Jahre war die Pietà von Neumark und im Jahre 2012 (wie schon erwähnt) die Skulptur Christus im Garten Gethsemane sowie die Heilige Elisabeth aus Marienburg und die Heilige Barbara aus Pelplin eingehend betrachtet worden.

In der Zeit vom Dezember 2018 bis zum Mai 2019 wurden aus allen Forschungsobjekten Steinproben entnommen und zur Analyse dem geologischen Institut der Breslauer Universität zugeleitet. Zudem wurde jedes der Kunstwerke sehr genau in Augenschein genommen, fotographisch dokumentiert und stilkritisch untersucht. Zusätzlich konnten durch Verfahren des 3D-Scanning von einigen Stücken digitale dreidimensionale Aufnahmen angefertigt werden. Außerdem wurden zwei Skulpturen – die Pietà aus der St. Thomas-Kirche in Neumark und die Heilige Elisabeth aus dem Nationalmuseum Danzig – konservatorisch behandelt: Nachdem mehrere Schmutz- und Farbschichten gelöst und entfernt worden waren, ließen sich die Kunstwerke in neuer Weise wahrnehmen und vermochten nun ihren hohen ästhetischen Wert uneingeschränkt zu offenbaren.

Bei diesen Untersuchungen konnten aus den Malschichten auch Proben gewonnen werden, die im interkollegialen Institut für Konservation und Restauration der Warschauer Kunstakademie mit verschiedenen Methoden stratigraphisch analysiert wurden und Einsichten in die Arten von Bindemitteln und Malpigmenten eröffneten. Diese Ergebnisse wiederum vertieften den bisherigen Kenntnisstand über die Kunst und Technik der Bemalung von Steinskulpturen um 1400 und weiteten den Forschungshorizont, weil der vergleichende Blick nun auch auf Werke fiel, die in Deutschland und Tschechien aufbewahrt werden. Nicht zuletzt dieses Beispiel belegt, dass es bei den Arbeiten keineswegs nur um Phänomene in Preußenland gegangen ist, sondern auch um die Herstellungs- und Verfahrensweisen der Werkstätten in Böhmen – sowie um die systematische Erweiterung der einschlägigen europäischen Datenbank, in der Informationen über derartige technologisch gestützte Analysen seit Jahren zusammengetragen werden.

Die Ausstellung

Im engen Zusammenhang mit dem Forschungsprojekt entstand das Konzept der Ausstellung, in der die untersuchten Werke gegen Ende des Jahres 2020 der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurden. Der Titel Bilde von Prage ist von einer Bemerkung aus dem – in den Jahren 1399 bis 1409 geführten – Marienburger Tresslerbuch abgeleitet, in der (im Jahre 1400) ein nicht spezifiziertes „Bild aus Prag“ erwähnt wird. Dies ist innerhalb des Ordensterritoriums das einzige schriftlich überlieferte Zeugnis über einen Kunst-Import aus Böhmen. Neben der Vorstellung der im Zentrum des Projekts stehenden Skulpturen, die auf eine böhmische Provenienz schließen lassen, zielt die Ausstellung darauf ab, auch den Kontext der lokalen künstlerischen Produktion am Ende des 14. sowie am Anfang des 15. Jahrhunderts zu erhellen.

Von den 15 detailliert erforschten Kalksteinskulpturen werden neun gezeigt. Besondere Aufmerksamkeit verdienen dabei nicht nur die künstlerisch überragende Figur Christus im Garten Gethsemane, sondern zweifelsohne auch die Pietà aus Neumark, die aufgrund der konservatorischen Bemühungen quasi neu entdeckt werden kann. Zudem ist es nun erstmalig möglich, die Danziger Skulpturen der Pietà und der beiden Heiligen jeweils für sich – unabhängig vom Traueraltar, in den sie sonst integriert sind – zu betrachten und unmittelbar mit anderen Kunstwerken derselben Ikonographie zu vergleichen. Eine eigens zu akzentuierende Attraktion der Schau bietet schließlich auch der Thorner Vir Dolorum, der aufgrund der Material-Untersuchungen als Werk böhmischer Herkunft identifiziert werden konnte und innerhalb dieses Umfelds nun eines der frühsten bekannten Beispiele eines „Schmerzensmanns“ bildet.

Der Erhellung des lokalen Kontextes dient ein erster Teil der Ausstellung, der unter dem Untertitel Genius loci steht. Hier werden Werke der Holzschnitzkunst präsentiert, die seit dem dritten Viertel des 14. Jahrhunderts entstanden und in dieser Zeit das künstlerische Panorama des Ordenslandes dominierten. Dazu gehören Groß-Skulpturen aus den Kulmer Werkstätten (Christus als Lehrer, Jesus im Garten Gethsemane, Mater Dolorosa), die formal in ihrer Linienführung und plastischen Gestaltung noch nicht gänzlich ausgereift erscheinen, oder die ausdrucksstarken Pietà-Darstellungen aus Königlich Kiewo (Kijewo Królewskie), Kr. Kulm, und Klein Laszewo (Świerczynki), Kr. Thorn, nicht anders als die Madonna aus Peterswalde (Pietrzwałd), Kr. Osterrode, die Heilige Barbara aus Strasburg, die seit den 1370er Jahren für das künstlerische Schaffen im Preußenland eine exemplarische Bedeutung gewonnen hat, oder Skulpturen aus Christburg, die Einflüsse der norddeutschen Kunst zu erkennen geben. Einige dieser Werke haben jetzt zum ersten Male überhaupt ihren ursprünglichen Standort verlassen.

Ebenso wie das Umfeld der frühen Phase haben auch die Zeugnisse der späteren Entwicklung, die regionale Wirkungsgeschichte des „Schönen Stils“, Berücksichtigung gefunden. Unter dem Thema Nachwirkungen bietet ein weiterer Abschnitt der Ausstellung repräsentative Beispiele für die Umsetzung von künstlerischen Modellen der Steinbildhauerei durch die Bildschnitzer, die sich von den Vorlagen anregen ließen und sie in gewisser Weise seriell weiterverarbeiteten. Dabei erreichen die einzelnen Realisationen qualitativ ein durchaus unterschiedliches Niveau. Dies bemaß sich teils an der Leistungsfähigkeit der jeweiligen Werkstatt, teils aber auch an dem Versuch, die neuen Kunst- und Stilmittel an den Erwartungshorizont der einfacheren, ungebildeten Betrachter anzupassen. Beim Weg, den der international anerkannte böhmische Stil in die Städte und Gemeinden des Ordensterritoriums zurücklegte, ergaben sich nahezu zwangsläufig Standardisierungen und Verflachungen oder eine manieristisch anmutende Überbetonung einzelner Elemente. Häufig gewinnt das Antlitz der Figuren keine individuelle Ausdruckskraft mehr, oder die Gesichter wirken wie diejenigen von Marionetten: Die Bildschnitzer stellen die Züge übertrieben dar, um auf diese Weise noch den Eindruck einer expressiven Mimik hervorzurufen.

Den Schlusspunkt der Ausstellung setzt der Torso der monumentalen Skulptur Madonna mit Jesuskind aus der St. Anna-Kapelle beim Hl. Geist-Hospital in Frauenburg, die jetzt im dortigen Nikolaus-Kopernikus-­Museum steht. Dieses Kunstwerk, die Schwesterskulptur der Schönen Madonna aus der Danziger Marienkirche, folgt Stilprinzipien, die auf einen stärker französisch-­flämischen Einfluss hindeuten. Dadurch vermag sie zu veranschaulichen, dass der böhmische „Schöne Stil“ ungeachtet seiner großen Bedeutung dem Ordensland keineswegs den alleinigen – und oftmals auch nicht den vorherrschenden – künstlerischen Impuls gegeben hat. Die Frauenburger Madonna belegt stattdessen die Offenheit und Aufnahmebereitschaft des unteren Weichsellandes gegenüber allen Einflüssen der west- und mitteleuropäischen Kunst am Anfang des 15. Jahrhunderts.

Die Ergebnisse des Forschungsprojekts zum „Schönen Stil“ werden im Herbst des laufenden Jahres veröffentlicht und dadurch der Fachwelt zugänglich gemacht. Zur Ausstellung Bilde von Prage haben die Kuratorin, Prof. Monika Jakubek-Raczkowską (von der Nikolaus-Kopernikus-Universität in Thorn), sowie die Autorin des vorliegenden Beitrags (Schlossmuseum Marienburg) zudem einen wissenschaftlichen Katalog erstellt.