Von Friedrich Winter

In den Wintermonaten werden bei vielen Angehörigen der Erlebnisgeneration Erinnerungen an die Endphase des Zweiten Weltkriegs wach. Dr. Friedrich Winter, 1986–1991 Präsident der Kirchenkanzlei der Evangelischen Kirche der Union (Bereich DDR) berichtet in seiner 2015 erschienen Autobiografie „Weg hast du allerwegen“ an seine Zeit an der Front. Diese begannen für den 1927 Geborenen im Januar 1945 als Angehöriger des Infanterie­regiments 688, 337. Volks­grenadierdivision, in Westpreußen.

Um die Verluste auszugleichen, wurde unser Bataillon eine Woche lang in der Tucheler Heide aufgefüllt. Wir durften uns ausruhen. Mir wurde mit ­einem anderen Jungen das Eiserne Kreuz Zweiter Klasse verliehen. Warum, weiß ich bis heute nicht. Ich hatte doch bisher noch keinen Schuss abgegeben. Unser Feldwebel hatte seine Familie als Flüchtlinge in meinem Elternhaus [in Soest; Anm. d. Redaktion] untergebracht. Vielleicht hatte er mich deshalb vorgeschlagen. Gegen Ende unseres Ruheaufenthaltes erschien ein Nationalsozialistischer Führungsoffizier, eine gegen Kriegsende eingeführte Position zur ideologischen Aufrüstung der Soldaten. Er gab sich locker und bat uns, der großen Aufgabe gemäß, Deutschland mutig zu verteidigen.

Um den 10. Februar 1945 wurden wir nach Neuenburg an der Weichsel verlegt, wo wir den zugefrorenen Flussübergang vor den Sowjets schützen sollten. Wir lebten friedlich in Häusern auf der Anhöhe des Flusses. Keiner kam. Die Nachtwachen waren auch hier bitter kalt. Bei einem Spähtruppunternehmen über die zugefrorene Weichsel sollten wir Gefangene machen, um festzustellen, wer uns gegenüber lag. Durch ein Minenfeld kamen wir in ein Dorf, schossen ins Dunkle auf einen russischen Posten und nahmen ihn gefangen. Er war verwundet worden. Als wir wieder zurück waren, starb er. Ob ich ihn mit den anderen Schützen auch getroffen hatte? Die Frage plagt mich bis heute.

In üblicher Weise zogen wir uns vor den Sowjets zurück, als diese vom Süden her beiderseits der Weichsel auf Danzig zumarschierten. Wir wichen in nordwestlicher Richtung nach Preußisch Stargard aus. Unsere Zweite Kompanie mit etwa achtzig Soldaten war größer als die stärker reduzierte Erste Kompanie. Unser Kompanieführer schonte uns. Dafür wurde er von einem verrückten Offizier in unserer Gegenwart kritisiert. Wir waren anderer Meinung. Tagsüber hielten wir uns in Häusern auf, um den Tief­fliegern zu entgehen, die auf alles schossen. Als wir in ein Haus einziehen wollten, schoss ein Soldat, der etwas älter war als wir Schüler, zur Begrüßung mit der Maschinenpistole in die Haustür. Wir protestierten mit Erfolg gegen diese Methode. Er tat es nicht wieder. Im Hause rückten die Bewohner zusammen und wir schliefen friedlich zusammen in einer großen Wohnküche.

In der Frühe des 22. Februar 1945 rückte die russische Front schnell hinter uns her, so dass wir uns am Tage zurückziehen mussten. Wir liefen über freies Feld. Tiefflieger beschossen uns. Tote lagen umher. Ich versuchte einen Schwerverwundeten mit einem Bauchschuss auf ein umherstehendes Pferd zu laden, konnte ihn aber allein nicht festhalten. Ich schrie um Hilfe, aber keiner der vorbeiziehenden Soldaten hörte auf mich. Da ließ ich den Unbekannten liegen, denn die Tiefflieger beschossen uns. Ich behielt ein schlechtes Gewissen.

Bei einem brennenden Bahnhofsgebäude sammelte sich in der Dämmerung unsere Einheit. Wir waren weniger als vorher. Ich wurde zum Melder bestellt und musste zwischen den verschiedenen Einsatzgruppen Nachrichten hin und her tragen.

Dann kam mein letzter Tag an der Front. Wir rückten am 23. Februar auf ein Dorf zu, das an einem Straßenknotenpunkt lag. In dem Gutshaus befand sich ein deutsches Lazarett. Plötzlich kamen uns russische Soldaten zuvor und besetzten das Dorf. Diese verjagten einen Teil der deutschen Verwundeten in Bauernwagen aus dem Gutshaus und schickten sie zu unserer Überraschung zu uns herüber. Sie waren gerettet. Hin und wieder schossen wir in das Dorf hinein, das einen halben Kilometer entfernt vor uns lag. Ich selber zielte nur in die Luft, um niemanden zu verletzen.

Ich trug Meldungen hin und her und wurde dabei beschossen. Die Kugeln peitschten über meinen Kopf hinweg. Da legte ich ein Gelübde ab: »Wenn ich hier herauskomme und nicht sterbe, will ich Gott ungeteilt dienen und Pastor werden.«

Ich erfuhr bald, dass wir in der Abenddämmerung einen Angriff auf das Dorf unternehmen sollten. Wir bekämen auch Unterstützung durch deutsche Kleinpanzer, die »Hetzer«. Das schien dringend nötig, denn in der Ferne hörten wir, wie schwere sowjetische ­T-34-­Panzer auf Lafetten herangeschleppt wurden.

Dann begann der Angriff. Unter lautem Gebrüll rannten wir mit unserem Kompanieführer an der Spitze bis an den Dorfrand, drangen schießend durch den Park auf das Gutshaus vor, in dem sich Russen versteckt hielten. Links und rechts fielen Menschen neben mir um. Unser Kompanieführer wollte, dass ich mich in seiner Nähe aufhalten sollte, weil er meinte, ich hätte keine Angst – das aber stimmte so nicht. Er erhielt einen Kopfschuss und starb.

Mich packte plötzlich eine Art »Jagdleidenschaft« und ich wollte einen der hinter dem Gutshaus stehenden Panzer bekämpfen. Mit einer Panzerfaust schlich ich mich heran, wurde aber wegen brennender Scheunen im Hintergrund gesehen. Eine Granate wurde auf mich abgefeuert. Ich knickte zusammen, spürte einen brennenden Schmerz in den Beinen, fiel um, raffte mich wie im Traum wieder auf, lief zurück und schrie nach einem Sanitäter. Angst überfiel mich. Das Blut rann mir aus den Beinen, auch aus Kopf und Schulter. Notdürftig wurde ich hinter einer Hausecke verbunden und knickte erneut zusammen.

Auf einer Trage wurde ich zum Verbands­platz »nach hinten« transportiert. Wir kamen an einigen Soldaten vorbei, die man an ­einem Baum aufgehängt hatte. Es war gespenstisch. Offenbar hatten sie nicht mehr kämpfen wollen. Ich wurde in einen Sanitätskraftwagen verladen und durch die Nacht zu dem Hauptverbandsplatz in ein Schloss transportiert.

Nach kurzer Zeit wurde ich in ein Operationszimmer gebracht. Ein starker Sanitäter hob mich auf den Operationstisch und fragte, wie alt ich sei. Verschämt mogelte ich mich um mein wahres Alter herum und sagte: Ich werde achtzehn. Dann wurde ich betäubt. Als ich wieder aufwachte, lag ich auf einer Strohschütte. Ich hatte starke Schmerzen und trug Verbände an Beinen, linkem Arm und Kopf. Später wurde mir gesagt, man habe einige große Splitter aus Unter- und Oberschenkeln entfernt, dazu einige kleine Splitter aus dem linken Oberarm, der linken Kopfseite und dem Gesäß. Viele kleine Splitter blieben stecken. Seither trage ich über zwanzig stecknadel- bis erbsengroße Splitter mit mir herum. Ich bekam zur Beruhigung eine Spritze und schlief ein. Was hatte mich getrieben, mich so zu verhalten? Jugendlicher Mutwillen, Kampfesrausch, Pflichterfüllung, Unbedachtheit, Ehrgeiz, Leichtfertigkeit? Wohl von allem etwas. Jedenfalls war ich von jenem Tag an mit ­einem Schlag ernüchtert und zeigte mich gegenüber allen großen Reden fortan noch immuner als bisher.

Am nächsten Tag fuhr uns ein Güterzug nach Danzig. Dort wurden wir eilig umgeladen und in einem Lazarettzug in Richtung Westen in Fahrt gesetzt. Das Glück im Unglück wollte es, dass der Zug in Hebrondamnitz vor Stolp in Hinterpommern für etwa eine halbe Stunde stehen blieb. Trotz hohen Wundfiebers konnte ich eine Postkarte an meine Schwester Annemarie im nahe gelegenen Sageritz schreiben, die ein Bahnbeamter besorgen wollte. Ich schrieb ihr, mir ginge es gut, sie möge sich auf den Weg zu den Eltern nach Vorpommern aufmachen. Vermutlich hat sie diese Karte nicht erreicht.

Der Zug fuhr im Laufe von drei Tagen nach Delmenhorst bei Bremen. An einem strahlenden Vorfrühlingstag empfingen uns Ende Februar Schulmädchen mit Frühlingsliedern. Über dem Kontrast zwischen Ostfront und ruhigem Westdeutschland fing ich an zu weinen. Ich fühlte mich gerettet.

 

Friedrich Winter: »Weg hast du allerwegen«. Mein Leben
als Theologe im Osten Deutschlands

320 Seiten, kart., ISBN 978-3-88981-393-0

Erschienen 2015 im Berliner Wichern-Verlag, www.wichern.de, € 19,95