Von Hans-Peter Goergens
Mit zunehmendem Alter wollte ich genauer wissen, warum wir unsere Heimat verloren haben. Bisher war ich mit einer einfachen Antwort auf diese Frage zufrieden gewesen : Weil wir den Krieg verloren haben. Es blieb dann allerdings die Frage, wer „wir“ sind. Und wer für den Krieg bezahlt hat. In meiner Verwandtschaft mütterlicherseits kamen auf der Flucht sechs Kinder ums Leben. Wie ist es dazu gekommen ?
Ich bin im März 1944 in Altweichsel in der ehemaligen Freien Stadt Danzig, also in unmittelbarer Nachbarschaft von Simonsdorf, geboren. Mein Vater stammt direkt aus diesem Ort. Bei meinen Studien zur Vorgeschichte und zum Beginn des Zweiten Weltkriegs bin ich deshalb immer wieder auf die Ereignisse zurückgekommen, die sich dort am 1. September zugetragen haben.
Der Krieg vor dem Krieg
Nachdem am 25. und 26. August 1939, einige Tage vor dem offiziellen Kriegsbeginn, der Handstreich auf den Jablunkapass gescheitert war – dabei hatte die Wehrmacht versucht, die Sprengung des dortigen Eisenbahntunnels zu verhindern –, war die polnische Armee in besonderem Maße vor ähnlichen Kommandounternehmen gewarnt. So rechnete sie auch bereits damit, dass das deutsche Militär bei der Eröffnung kriegerischer Handlungen alles daransetzen würde, die Dirschauer Brücken, die bereits zur Sprengung vorbereitet worden waren, unversehrt in die Hand zu bekommen. Der polnische Brückenkopf, den es bei Ließau auf der Ostseite der Weichsel gab, war daraufhin nochmals aufgerüstet worden.
Die erwartete Aktion der deutschen Seite wurde dann am frühen Morgen des 1. September tatsächlich begonnen. Durch Stuka-Angriffe sollten verschiedene wichtige Punkte in Dirschau zerstört werden. Dabei bildeten die Zündkabel an den Weichselbrücken ein bevorzugtes Ziel. Gleichzeitig sollten Wehrmachtseinheiten in einem Güterzug von Marienburg nach Dirschau fahren und die Brücken besetzen. Post und Bahn unterstanden in Danzig allerdings Polen. Züge der Reichsbahn wurden mit polnischen Lokomotiven und mit polnischer Besatzung durch das Gebiet der Freien Stadt gefahren. Der Güterzug wurde deshalb ordnungsgemäß angemeldet, die polnische Lokomotive fuhr nach Marienburg. Von dort waren es nach Dirschau 18 km. Die an der Strecke liegenden Bahnhöfe Kalthof, Simonsdorf und Ließau waren mit polnischem Personal besetzt. In Simonsdorf war auch die Zollstation.
Vor der Rückfahrt wurden die polnischen Eisenbahner auf der Lokomotive überwältigt und durch deutsche in polnischer Uniform ersetzt. Die Belegschaften der drei Bahnhöfe sollten durch Kommandounternehmen örtlicher SA-Einheiten inhaftiert werden. Dies gelang in Kalthof und Ließau problemlos. Auch die in ihren Wohnungen befindlichen Eisenbahner wurden aus den Betten geholt. In Simonsdorf hingegen wurde, wie sich späterhin zeigte, die Operation nicht plangemäß durchgeführt.
Um 4.15 Uhr sollte der Güterzug, gefolgt von einem Panzerzug, in Marienburg losfahren. Es gab jedoch eine Verspätung von einigen Minuten. Vermutlich schöpften die Eisenbahner in Simonsdorf hierdurch Verdacht. Möglicherweise fand auch ein Beamter in Kalthof noch eine Gelegenheit, sie telefonisch zu informieren. Dies ist aber nicht gesichert. Auf jeden Fall gelang es, Dirschau von Simonsdorf aus noch durch eine Signalrakete zu warnen.
Die Folge war, dass die Weichselbrücken durch Tore geschlossen wurden. Die Gleise waren nun durch querliegende Schienen gesperrt. Als der recht lange Zug um 4.42 Uhr vor der Brücke stand, eröffnete die polnischen Soldaten des Ließauer Brückenkopfs das Feuer. Die Wehrmachtssoldaten sprangen aus dem Güterzug und schossen zurück. Im gleichen Moment kamen die Stukas von Ostpreußen her und griffen Dirschau und die Zündleitungen an. Der hinten stehende Panzerzug war zunächst jedoch aktionsunfähig. Beide Züge mussten erst umrangiert werden, damit sich dem Panzerzug ein freies Schussfeld bot. (Unter den verschiedenen Berichten gibt es eine weitere, unbestätigte Version, nach der die Bahnbeamten von Simonsdorf den Panzerzug sogar umgeleitet hätten.) Die ganzen Aktionen blieben letztlich aber wirkungslos, denn die Brücken konnten ohne weitere Einwirkungen von außen gesprengt werden.
Ab 5.45 Uhr wurde dann von der Schleswig-Holstein aus das Feuer auf die Westerplatte eröffnet, – jetzt erst hatte der Zweite Weltkrieg eigentlich begonnen.
Opfer und Täter
Zu diesem Zeitpunkt war das Massaker schon begangen worden. Im Bericht des Oberkommandos der Wehrmacht (OKW) stand, aufgrund der gebotenen Eile hätte „scharf durchgegriffen“ werden müssen. Die Beteiligten des „Unternehmens Post“ berichteten zudem von Gegenwehr der Bahnbeamten, die nach der Aussage einzelner Zeugen sogar bewaffnet gewesen sein sollten. Dem Bericht zufolge hatte es deshalb neben 15 Gefangenen, davon fünf Verwundeten, 20 Tote gegeben.
Als die Wehrmacht in Simonsdorf eintraf, lagen jene 20 Opfer in einem Massengrab. Auf die Frage, wer das sei, wurde die Antwort gegeben, es handele sich um Mitglieder der „polnischen Minderheit“. Der Wehrmachtsoffizier soll daraufhin entgegnet habe, das sei wohl kein Grund, sie zu erschießen. Die Soldaten fanden zudem noch einen bewusstlosen Beamten (namens Lessnau), dessen Frau ebenfalls zu den Opfern gehörte. Er wurde nach Marienburg ins Krankenhaus gebracht.
Für die Ermordeten musste mein Großvater, er war Schmied in Simonsdorf, auf Geheiß des Gendarmerie-Wachtmeisters Gröning jeweils ein Metalltäfelchen mit dem Namen anfertigen. Bei den Toten handelte es sich um zwölf Bahnbeamte, sechs Zollbeamte und zwei Frauen, eine davon schwanger. Sie wohnten im Bahn- bzw. Zollgebäude. Sofern sie keinen Dienst hatten, waren sie aus ihren Wohnungen geholt worden.
Abgesehen davon, dass die Aktionen insgesamt völkerrechtswidrig gewesen sind, waren die Morde in dieser Systematik nicht zu rechtfertigen. Sie wirken vor allem wie ein Willkürakt, eine von aufgestautem Hass motivierte Tat, denn es wurden alle Polen ermordet, die überhaupt greifbar waren. Dass einer von ihnen schwerverletzt überlebte, war allein der hinzukommenden Wehrmacht zu verdanken. Das „Unternehmen Post“ sollte durch ortskundige SA-Leute durchgeführt werden. Es gab den Befehl, die Belegschaften der Bahnhöfe festzusetzen, sie sollten jedoch nicht ermordet werden. Dies geschah somit eigenmächtig und war – selbst wenn eine Notwehr-Situation bestanden haben sollte – gänzlich unverhältnismäßig.
Wer waren nun die Täter ? Die SS-Heimwehr Danzig war mit Angriffen auf die Danziger Post und (von Norden her) auf Dirschau beschäftigt. Sie kam mithin nicht in Betracht. So waren viele aus dem Umkreis der SA verdächtig. Nach dem Krieg wurden auch etliche vernommen, sowohl durch die polnische Seite als auch auf Veranlassung der Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen in Ludwigsburg. Darunter waren auch mein Großvater Hermann und sein Sohn Herbert Goergens. Von dessen Brüdern war Horst erst 15 Jahre alt, Hans befand sich bei der „Heimwehr Danzig“ und Bruno, Alfred (mein Vater) und Fritz waren vermutlich bei ihren Wehrmachtseinheiten in Ostpreußen.
Simonsdorf hatte damals etwa 700 Einwohner, überwiegend Deutsche, und etwa 160 polnische Saisonarbeiter. Nach Auskunft meines Großvaters gehörten viele Männer zum SA-Sturm Simonsdorf. Niemand wollte jedoch einen der Täter erkannt haben ; und auch der verletzte Eisenbahner konnte keine Aussage machen, weil er bewusstlos gewesen war. Nach dem ursprünglichen Plan sollten 15 Mann die Aktion in Simonsdorf durchführen. Ob sich eine größere Zahl von ihnen daran beteiligte, ist nicht bekannt. Nach den vorhandenen Aussagen sollten SA-Männer aus Marienburg und Simonsdorf die Täter gewesen sein, und es war auch von angeblich unbekannten Beteiligten die Rede. Trotz einer langen Liste von Verdächtigen wurde letztlich also niemand ermittelt, geschweige denn vor Gericht gestellt. Und inzwischen sind alle verstorben. Die einzige Zeitzeugin, die ich noch befragen konnte, war meine (1921 geborene) Mutter. Sie arbeitete damals im Gut Söhnke als Wirtschafterin, ca. 200 m vom Tatort entfernt. Sie hatte auch Schüsse gehört, natürlich auch die Flugzeuge, konnte über Täter aber natürlich keine Auskünfte geben. Sie erinnerte sich aber noch deutlich daran, dass die Vorgänge „eine große Aufregung im Dorf“ verursachten.
Persönliche Folgerungen
Nachdem die Nachgeborenen, denen die einfachen Antworten der Eltern und Großeltern nicht mehr ausreichten, sich – oft viel zu spät – selbst auf die Suche gemacht und historisch anscheinend verlässliche Fakten, verstreute Dokumente und Erinnerungssplitter zusammengetragen haben, stehen sie vor diesen Materialien und müssen überlegen, was sie mit dieser Geschichte, in die die eigene Familie involviert gewesen ist, aber auch mit anderen, ähnlichen Geschichten jetzt anfangen ? Die wichtigste Frage, die sich mir an diesem Punkt stellt, ist diejenige nach der Art des Zusammenlebens zwischen Polen und Deutschen in einem Klima, das offenbar tiefgreifend von Misstrauen, wenn nicht gegenseitiger Verachtung oder gar Hass geprägt war.
Eine wichtige Antwort lässt sich im „Totenwald“ von Piasnitz bei Neustadt finden, beim Besuch der über 20 Gedenkstätten. An den dortigen Mordtaten, die kurz nach Beginn des Zweiten Weltkriegs begangen wurden, waren Männer des „Volksdeutschen Selbstschutzes“ beteiligt, d. h. hier haben in gewisser Weise Nachbarn ihre Nachbarn umgebracht, wobei die entsprechenden Listen schon vor dem Kriegsausbruch gefertigt worden waren.
An dieser Stelle finden sich Entsprechungen zu den Plänen der polnischen Seite, die z. B. in Bromberg oder bei den Deportationen der Deutschen umgesetzt wurden, denn auch sie waren längst vor dem Beginn der kriegerischen Handlungen gefasst worden. Erschreckend aber ist das Ausmaß der Massaker, die von Deutschen gerade auf dem Boden Westpreußens begangen wurden. Nun begegneten mir auch weitere Details des Terrors, den Deutsche während des Zweiten Weltkriegs in Polen ausgeübt hatten. So verfolgte ich die Spuren von zwei Deportationszügen, mit denen Zwangsarbeiter ins Deutsche Reich verbracht worden waren. Dabei führte die Recherche zunächst durch ganz Polen, denn die Stationen der Züge hießen Warschau, Treblinka, Budzyn, Majdanek, Lublin, Rzeszów, Plaszow, Krakau, Wieliczka, Flossenbürg und Offenburg bzw. Colmar. Zudem wurde mir nachdrücklich bewusst, wie viele Kinder (jüdische wie nicht-jüdische) in diesem Krieg ihr Leben verloren, verhungerten oder erschlagen, erschossen oder vergast wurden. Gerade im Blick auf die Kinder wurde beklemmend deutlich, mit welcher Kraft der – durch die nationalsozialistische Ideologie nochmals gesteigerte – Nationalismus und Chauvinismus des späten 19. wie des 20. Jahrhunderts es vermocht hatten, ethisch-moralische Empfindungen und Haltungen wie Empathie und Mitmenschlichkeit außer Kraft zu setzen, sie ins völlige Gegenteil zu pervertieren. Und damit wurde auch erheblich klarer, wer immer mit gemeint war, wenn es hieß, dass „wir“ diesen Krieg verloren hätten.
Damit war zwar noch keineswegs beantwortet, warum die Deutschen aus den ostmittel- und osteuropäischen Siedlungsgebieten für diesen Krieg hatten „bezahlen“ müssen, zumal sich kein erlittenes Unrecht jemals gegen eine anderes „aufrechnen“ lässt. Wohl aber zeigte sich mir, dass diese Frage angesichts des grenzenlosen Hasses und Vernichtungswillens, die in jener Phase der deutsch-polnischen Geschichte möglich geworden waren, ihre Relevanz verlor : Stattdessen sollten gerade wir Kinder und Enkel von Flüchtlingen und Heimatvertriebenen einen Beitrag für die Zukunft unseres Kontinents leisten, denn nach unserer Erfahrung führt die übersteigerte Orientierung am „Nationalen“ zu leicht in die Irre : Die anstehenden Probleme – nicht zuletzt die drängenden Fragen der Verteilung und Integration von heutigen Flüchtlingen – können nur durch gemeinsame, transnationale oder internationale Modelle des Zusammenwirkens bewältigt werden. Gerade wir und unsere Familien haben eigene, bittere Erfahrungen machen müssen : Bringen wir sie ein, nicht rückwärtsgewandt, sondern positiv und brüderlich – für eine bessere Zukunft.
Hans-Peter Goergens, zunächst im Polizeidienst, ab 1975 bis zur Pensionierung hauptamtlicher Gewerkschaftssekretär; engagiert sich neben seiner Publikations- und Vortragstätigkeit vor allem in der Bildungs- und Projektarbeit mit Jugendlichen und bietet dabei z. B. regelmäßige Führungen durch das KZ Natzweiler-Struthof und andere Gedenkstätten an.