Von Ulrike Enke
»In den Tagen vor der Preisverleihung lag eine gewisse Spannung in der Luft. Die Namen der Gewinner wurden geheimgehalten – sie waren nicht, wie heute, schon Monate im voraus bekannt gegeben worden. Als drei vornehme deutschsprachige Herren mit dem Zug aus dem Süden anreisten und zum Grand Hotel gebracht wurden war klar, daß dies die Gewinner sein mußten. […].
Die Preise wurden in der großen Halle der königlich-schwedischen Musikakademie in Nybroviken vergeben. […] Dann traten die drei Preisträger ein […]. Zuerst kam der stattliche Deutsche Wilhelm Konrad von Röntgen mit seinem langen dunklen Professorenbart, dann der lächelnde, blonde, glattrasierte Däne Jakobus Hendricus van t’Hoff, gefolgt von dem eleganten deutschen Medizinpreisgewinner Emil Adolf von Behring.«
Der hier zitierte Augenzeugenbericht von der allerersten Nobelpreisverleihung aus dem Jahre 1901 stammt von dem damals 20-jährigen Studenten Folke Henschen (1881–1977), dem späteren Professor am Karolinska-Institut Stockholm und Vorsitzenden des medizinischen Nobel-Komitees.
Ganz Stockholm muss von einer gleichermaßen erwartungsvollen wie festlichen Atmosphäre erfüllt gewesen sein, und man kann vermuten, dass sich auch die Preisträger in einer dem besonderen Anlass angemessenen Stimmung befanden. Emil von Behring, der unter einem kleinen Kreis ernstzunehmender Konkurrenten ausgewählt worden war, erhielt den Medizinnobelpreis für seine anwendungs-bezogenen Forschungen zur Diphtheriebekämpfung, oder wie es auf der Preisurkunde auf Schwedisch heißt, »für seine Arbeiten betreffend die Serumtherapie und besonders deren Anwendung gegen Diphtherie.«
Die Preisverleihung im Dezember 1901 bildete den Höhepunkt einer außerordentlich erfolgreichen Periode in Behrings Leben. Bereits 1895 war er mit dem wichtigen Prix Alberto Levi zur Erforschung der Diphtherie ausgezeichnet worden ; seitdem war er nicht nur zum Ehrenmitglied angesehener deutscher Gesellschaften wie der Senckenbergischen Naturforschenden Gesellschaft in Frankfurt am Main und dem Verein für Innere Medizin in Berlin ernannt worden, sondern hatte auch internationale Würdigungen in Form von Ehrenmitgliedschaften erfahren – so bei der Gesellschaft der Kinderärzte der Universität Moskau, der Kaiserlichen Ärztegesellschaft zu Wilna, der Königlichen Italienischen Gesellschaft für Hygiene und der Société Impériale de Médecine de Constantinoble. Zudem wurde er am 18. Januar 1901 anlässlich des 200. Jahrestages der Erhebung Preußens zum Königreich von Kaiser Wilhelm II. in den erblichen Adelsstand erhoben.
Herkunft, Jugend und Studium
Alle diese mit hohem gesellschaftlichem Renommee verbundenen Auszeichnungen waren dem Wissenschaftler wahrlich nicht in die Wiege gelegt worden. Der am 15. März 1854 geborene Emil wuchs in den bescheidenen Verhältnissen eines Dorfschullehrerhaushalts im damaligen Hansdorf in Westpreußen (heute Ławice) auf. Die Menschen in Hansdorf und den umliegenden Siedlungen lebten von Ackerbau und Feldarbeit ; das Lehrergehalt war knapp und wurde zum Teil in Naturalien ausgezahlt. Als Behrings Vater August 1848 seine Stelle im Dorf antrat, bestand sein Einkommen aus 18 Morgen Landnutzung, einigen Scheffeln Getreide und 24 Talern pro Jahr, die später auf 50 Taler aufgestockt wurden. (50 Taler entsprachen in Behrings Geburtsjahr, 1854, einer Kaufkraft von 1.250 Euro.) Aus den Familienbriefen wissen wir zudem, dass die Familie auch Kühe hielt. Emil war das fünfte von dreizehn Kindern, das erste Kind seiner Mutter Augustine, die der Vater nach dem Tod der ersten Ehefrau geheiratet hatte.
Doch von einem Prekariat nach soziologischen Kategorien kann nicht gesprochen werden. Die Familie war zwar arm an materiellen Reichtümern, aber beide Eltern entstammten Lehrerfamilien, hatten innerhalb der dörflichen Gemeinschaft ein gewisses Ansehen und konnten ihren Kindern eine Basisbildung mitgeben. Man hatte Zugang zu Büchern und Musik. Fünf der Geschwister wurden ebenfalls Lehrer oder heirateten Angehörige dieses Berufes. In den bis heute erhaltenen Familienbriefen tauscht man sich beispielsweise intensiv über neue Orgeln und Orgelwerke für den Sonntagsgottesdienst aus ; die sonntägliche Orgelbegleitung in der Kirche gehörte schließlich zu den Aufgaben der Dorfschullehrer. Schwester Emma berichtet ihrem Bruder Albert aus Berlin vom geplanten Besuch »englischer und französischer Stunden« oder den Karten für Adolphe Adams Komische Oper Der Postillon von Lonjumeau.
Der Bildungsgang eines begabten Dorfschullehrerkindes sah entweder wiederum den Lehrerberuf oder aber als höchste Aufstiegsmöglichkeit den Beruf des Pfarrers vor. Ab Oktober 1867 besuchte Behring sieben Jahre lang das Gymnasium in Hohenstein (Olsztynek), das immerhin 55 km von seinem Dorf entfernt war. In Hohenstein war er nicht der einzige »Auswärtige«, die Schulchronik verzeichnet immer wieder auch Schüler aus dem Kreis Rosenberg, aus dem Behring stammte. Ob die frühe Entfernung vom Heimatort auch mit einer Entfremdung von der Familie einherging, können wir nicht sagen, aus der Schul- und Studienzeit sind keine Briefe erhalten. In Behrings Abiturjahr 1874 vermerkt die Schulchronik als Berufsziel des 20-jährigen Hansdorfers etwas unbestimmt »Philologie«. Weshalb der Abiturient sich dann kurzerhand für das Medizinstudium entschied, kann im Nachhinein nicht mit Sicherheit gesagt werden. Anekdoten, wie sie beispielsweise (etwa 1940) in der in Königsberg erscheinenden Preußischen Zeitung abgedruckt wurden, erzählen von der »Vorsehung« in Gestalt des Oberstabsarztes Dr. Blumensath, der »bestimmend auf das Schicksal des jungen Studenten« eingegriffen habe. Sozusagen auf dem Weg in Richtung Theologiestudium in Königsberg habe eine Fügung Behring mit dem Neffen des Pfarrers Leipolz aus Raudnitz zusammen gebracht, und Blumensath habe Behring auf die Möglichkeit eines Studiums an der Militärärztlichen Akademie in Berlin hingewiesen. So nahm dann das Schicksal seinen Lauf !
Tatsächlich bot die Pépinière, das »Medicinisch-chirurgische Friedrich-Wilhelm-Institut« in Berlin, dem jungen Behring die Chance eines kostenlosen Medizinstudiums. In dem Institut wurden die preußischen Militärärzte ausgebildet, das unentgeltliche Studium war jedoch verbunden mit der Verpflichtung zu einer achtjährigen Dienstzeit als Militärarzt.
Das Studium verlief nach Plan. Bereits nach vier Jahren, 1878, legte Behring seine medizinische Promotion über Neuere Beobachtungen über die Neurotomia opticociliaris vor, eine theoretische, auf Protokollen aus der Augenklinik der Berliner Charité basierende Arbeit. Gewidmet ist sie den »theuren Eltern in Liebe und Dankbarkeit«.
Der »Retter der Kinder« und seine Erfolge am Markt
Weg von Chirurgie und Augenheilkunde wandte sich der junge Arzt schon bald seinem Lebensthema, der Bekämpfung von Infektionskrankheiten und der damit verbundenen Frage von angeborener und erworbener Immunität zu. Begegnet war er der von ansteckenden Krankheiten ausgehenden tödlichen Bedrohung bereits in seinem letzten Schuljahr, als sowohl in Hohenstein als auch in Hansdorf eine Cholera-Epidemie grassierte, der auch zwei Mitschüler zum Opfer fielen.
Nach Abschluss des Studiums führte die militärärztliche Tätigkeit Behring nach Wohlau, Posen, Winzig und Bojanowo, danach zu einem Forschungsaufenthalt in das Pharmakologische Institut der Universität Bonn. 1889 wurde er an das Hygienische Institut der Universität Berlin, das von dem bekannten Bakteriologen Robert Koch (1843–1910) geleitet wurde, abkommandiert. Hier gelang es ihm gemeinsam mit dem japanischen Gastwissenschaftler Shibasaburô Kitasato, ein Heilmittel gegen die Diphtherie zu entwickeln, das zunächst an Tieren getestet und ab 1893 mit großem Erfolg bei der Behandlung diphtheriekranker Kinder eingesetzt wurde. Neben der Cholera, den Masern, der Tuberkulose und der Ruhr war es die Diphtherie, die erschreckend hohe Sterbeziffern aufwies. Allein in Preußen starben von 1881 bis 1886 jährlich durchschnittlich 25.000 Säuglinge und Kleinkinder bis zum Alter von drei Jahren an Diphtherie oder »häutiger Bräune«. Bei Kindern im Alter von drei bis fünf Jahren war die Diphtherie die häufigste Todesursache.
Als die in Höchst am Main ansässigen Farbwerke auf das von Behring entwickelte Diphtherieheilserum aufmerksam wurden, boten sie dem jungen Wissenschaftler eine finanziell äußerst lukrative Zusammenarbeit an, die er ohne zu zögern annahm. Bereits im August 1894 kam das seinen Namen tragende »Diphtherie-Heilmittel dargestellt nach Behring Ehrlich« auf den Markt, das in unterschiedlichen Stärken bezogen werden konnte.
Für die 1863 gegründeten Farbwerke, die zunächst schwerpunktmäßig Teerfarben hergestellt hatten, bedeutete die Investition in pharmazeutische Produkte die Erschließung neuer Märkte, die mit der Hoffnung auf größere Gewinne verbunden war. Der Vertrag von 1892 bot Behring eine Gewinnbeteiligung von zunächst fünfzig Prozent. Schon im ersten Produktionsjahr erhielt er 150.000 Mark, eine Summe, die dem 25fachen Jahresgehalt eines Universitätsprofessors entsprach. Zudem richteten die Farbwerke 1896 für Behring ein privates Serumforschungs-institut auf dem Marburger Schlossberg ein, für welches er jährlich 40.000 Mark zum Unterhalt sowie zur Finanzierung externer Mitarbeiter bezog. Im Gegenzug verpflichtete sich Behring, auch zukünftige Forschungsergebnisse Höchst zur Verfügung zu stellen – ein Punkt, der in den Folgejahren zu ausgedehnten Streitigkeiten zwischen den Parteien führen sollte bis hin zum Bruch, was 1904 in die Gründung des Marburger Behringwerks mündete.
Im Frühjahr 1914 stiegen Bremer Kaufleute und Bankiers als Geldgeber und Aufsichtsratsmitglieder in das Marburger Behringwerk ein, das nun als GmbH firmierte und den Namen Behringwerke Bremen und Marburg trug. Bald nach Kriegsbeginn machten die Behringwerke ihren Hauptumsatz nicht mehr durch die Produktion des Diphtherieheilserums, sondern durch den Verkauf eines Tetanusserums, das während des Ersten Weltkriegs an der Front bei der Behandlung verletzter Soldaten zum Einsatz kam. Ausgezeichnet von Kaiser Wilhelm mit dem Eisernen Kreuz, erhielt Behring nun nicht nur den Ehrentitel »Retter der Kinder«, sondern auch den des »Retters der Soldaten«.
Das Leben eines weltläufigen Mannes
Dank der Zusammenarbeit mit den Farbwerken in Höchst und durch den Aufbau eines eigenen pharmazeutischen Werks war der Hansdorfer Lehrersjunge zu einem reichen Mann geworden, der seinen Wohlstand auch nach außen hin zeigte – etwa durch ein besonders gestaltetes Briefpapier, auf dem er mit Stolz seine äußerst großzügige Marburger Villa im italienischen Stil präsentierte. Er unternahm mehrere Kreuzfahrten, die überhaupt erst seit wenigen Jahre von der HAPAG angeboten wurden, verkehrte in regierungsnahen Kreisen und knüpfte Kontakte zu Industriellen, die er bei seinen Auslandsaufenthalten kennenlernte. Einerseits geschätzt als brillanter, gebildeter und liebenswürdiger Gesellschafter, war er andererseits wegen seiner Unbeugsamkeit bei geschäftlichen Verhandlungen und wissenschaftlichen Auseinandersetzungen in »Prioritätsfragen« gefürchtet und wurde auch von ehemaligen Freunden gemieden.
Geld, unternehmerischer Einfluss und die wissenschaftliche Anerkennung in der ganzen Welt trugen dazu bei, dass Behring sich mehr und mehr von seiner sozialen und geographischen Herkunft entfernte. Zur Beerdigung der eigenen Mutter, die im Januar 1892 starb, reiste er nicht nach Hansdorf, angeblich verhindert durch eine eigene Erkrankung. Zu einzelnen Geschwistern, insbesondere zu Emma, die ihm vor seiner Heirat für mehrere Jahre den Haushalt in Berlin und später in Marburg führte, und zu Bertha, die den Lehrer Hermann Bieber geheiratet hatte – wie auch zu deren Sohn Walter, der selbst Medizinprofessor wurde und während seiner Ausbildung einige Zeit in Marburg verbrachte – hielt er losen Kontakt. Die Begegnungen fanden aber nicht in der westpreußischen Heimat, sondern in Berlin oder Marburg statt, wo seine Ehefrau Else von Behring (1876–1936) ein gastliches Haus führte.
Tatsächlich bildete die neue Familie den privaten Mittelpunkt seines Lebens. Sie bestand aus Else von Behring, mit der er seit 1896 verheiratet war und mit der er sechs Söhne hatte, und seinen Schwiegereltern Elise und Bernhard Spinola, letzterer der Verwaltungsdirektor der Charité mit Beziehungen zum Hof. Die nur unwesentlich ältere Schwiegermutter nannte er zärtlich »Mama« und unterschrieb seine Briefe mit »Emilchen«.
Die unbestreitbar beeindruckende Persönlichkeit Behrings zeichnet einer von dessen Weggefährten, der Kinderarzt Otto Heubner (1843–1926), in seinen Erinnerungen mit klaren Worten nach. Heubner, der in Leipzig und in Berlin als Professor für Kinderheilkunde arbeitete, hatte Behrings Forschung und die Anwendung der Serumtherapie fast von Anfang an begleitet. Er publizierte unermüdlich über die segensreiche Wirkung des Diphtherieheilserums und hielt auf internationalen Kongressen Vorträge zum Thema. In seinen Erinnerungen widmet er eine Seite auch dem Hansdorfer Serumforscher. Dort heißt es :
Behring war einer »der interessantesten Menschen, die mir in meinem Leben begegnet sind […]. Er war ein glänzender analytischer Kopf, dessen kühne Ideen von streng mathematischer Anschauung beherrscht waren. Von mittlerer Größe und soldatischer Haltung (als wir uns kennenlernten, war er noch Stabsarzt) machte der rötlichblonde Mann sofort bei der ersten Begegnung den Eindruck eines auf sich selbst stehenden Forschers.
Sein helles Auge mit durchdringendem, zuweilen etwas stechendem Blick gewann bei der Diskussion, die sich sofort beim persönlichen Verkehr entspann, einen äußerst beherrschenden Ausdruck. Er stand mit seiner ganzen Denkweise völlig außerhalb jeder Schulmeinung und Tradition und pflegte dies sogar mit Vorliebe zu betonen. Dabei war er aber Einwürfen gegenüber nicht absprechend, sondern ging auf sie mit ernstesten Erörterungen ein. Es war ein seltener Genuß für mich, von einem solchen ursprünglichen Forschergenie mit Gedankenreihen überflutet zu werden, die mir ganz neue Gesichtskreise eröffneten. In seinen Manieren blieb er dabei immer ein Kavalier mit vornehmer Attitüde, obwohl er nicht aus besonders hochstehenden Kreisen stammte. Er war ein Lehrerssohn. Welchen Kontrast bildete diese geniale Natur mit manchem anderen auch originellen Kopf, der aber das savoir vivre nicht gelernt hatte !«
(Otto Heubners Lebenschronik ; von ihm selbst verfaßt und mit seinem Willen nach seinem Tode herausgegeben von seinem ältesten Sohn Wolfgang Heubner. Berlin 1927, S. 133 f.)
Behring starb am 31. März 1917 nach langer Krankheit an den Folgen einer Lungenentzündung. Am 4. April 1917 wurde er in seinem Mausoleum auf der Marburger Elsenhöhe beigesetzt.