Eine Spurensuche entlang reformations­geschichtlicher Erinnerungsorte.

Von Tilman Asmus Fischer

2017 feiern Menschen weltweit das historische Ereignis der Reformation. In Deutschland stehen die Ereignisse rund um die lutherische Reformationsbewegung in Mitteldeutschland naturgemäß im Zentrum der Feierlichkeiten. Deshalb lohnt es sich umso mehr, auch an die europäische und weltweite Wirkmacht dieses historischen Phänomens und seine unterschiedlichen Ausprägungen zu erinnern. Dabei kann der Blick in einzelne multikonfessionell und multi­ethnisch geprägte Regionen – gerade wie das untere Weichselland – sehr aufschlussreich sein.

Infolge von Flucht und Vertreibung ist Westpreußen heute ein Raum, in dem weitestgehend Katholiken und nur noch eine kleine Schar von Lutheranern leben. Es finden sich freilich noch viele Orte und Kulturdenkmäler, die eng mit der Reformationsgeschichte verbunden sind und darüber hinaus von der Vielfalt protestantischen Lebens im Ostseeraum zeugen. Neun solcher kirchengeschichtlicher Erinnerungsorte sollen hier exemplarisch betrachtet werden. Diese Orte vermögen, sowohl die Vielschichtigkeit der ›Reformation‹ als auch ihre ökumenische Dimension und die unterschiedlichen Ausprägungen dessen zu verdeutlichen, was wir ›den Protestantismus‹ nennen. Beginnen soll unsere Spurensuche mit grundsätzlichen Überlegungen, ausgehend von der protestantischen Kirche Westpreußens schlechthin.

Oberpfarrkirche St. Marien, Danzig In ihrem 1929 erschienen Buch Die Marienkirche in Danzig preisen Karl Gruber und Erich Keyser die altehrwürdige evangelische Oberpfarrkirche als »Gotteshaus der Bürger, errichtet durch das einmütige Zusammenwirken der Brüderschaften, Gewerke und Geschlechter«. Diese Perspektive auf die Marienkirche verdeutlicht bereits den enormen Identifikationswert, den Europas größte Backsteinkirche für ihre Stadt hatte. Dies ist umso bemerkenswerter, als hier eine von katholischen Bürgern vor der Kirchenspaltung errichtete Kirche zum Identifikationspunkt einer protestantisch dominierten Bürgerschaft wurde. Ebenso konnten westpreußische Kirchen auch bis in unsere Tage hinein den Kirchenbrief der Gemeinschaft Evangelischer aus Danzig-Westpreußen zieren, obwohl die Gotteshäuser mit Kriegsende der katholischen Kirche übergeben worden waren.

Diese Beobachtung erinnert uns an zweierlei Zusammenhänge, die es bei unserer Spurensuche zu bedenken gilt :  Zum einen, dass ein Erinnerungsort nicht statisch ist, sondern stets von den Zu- und Überschreibungen lebt, die er im Verlauf seiner Geschichte erhält. Daher stellt unsere heutige Spurensuche auch notwendiger Weise nur eine Bestandsaufnahme von Bedeutungen dar, die einem Denkmal oder Ort unter einem ganz bestimmten Gesichtspunkt – demjenigen der Reformation – Konturen verleihen. Zum anderen weist uns St. Marien darauf hin, dass ein und demselben Erinnerungsort gleichzeitig differierende, wenn nicht gegensätzliche Bedeutungen zukommen können – hier etwa eine deutsche bzw. protestantische oder eine katholische bzw. polnische.

Reformation und Katholizismus

Wenn wir in diesem Sinne nach Orten fragen, deren historische Bedeutung an das Phänomen Reformation erinnert, dann gelangt man auch zu exklusiv katholischen Erinnerungsorten, in denen ein entsprechendes Narrativ der Reformationsgeschichte manifest wird.

Königliche Kapelle, Danzig Am sinnfälligsten wird dies an der Königlichen Kapelle, die der Marienkirche unmittelbar benachbart ist. Immerhin verdankt diese Kapelle – was auf den ersten Blick womöglich paradox klingen mag – ihre Existenz der Reformation in Danzig :  Nachdem nach und nach alle Kirchen evangelisch geworden waren, fehlte den verbliebenen Danziger Katholiken ein Gotteshaus. Finanziert durch ihren Stifter, den polnischen König Johann III. Sobieski, wurde daraufhin die Kaplica Królewska – die Königliche Kapelle – als neue katholische Kirche errichtet und 1681 fertiggestellt. Damit steht sie sowohl für den Bedeutungsverlust der katholischen Kirche in Städten, die sich mehrheitlich zum Protestantismus bekehrten – aber ebenso auch für die Fähigkeit zur neuen Selbstverortung unter veränderten Umständen wie zum Nebeneinander von altem und neuen Glauben.

Jesuitenkolleg, Deutsch Krone Der Kontext der katholischen Reaktionen auf den Prozess der Reformation wird wesentlich von der sogenannten Gegenreformation – und damit einer ihrer treibenden Akteurinnen :  der Societas Jesu (SJ) – bestimmt. Dabei gilt es zu bedenken, dass sich die – letztlich kirchenspaltende – evangelische Reformation selbst in einer Zeit innerkatholischer Reformbewegungen entwickelte und ebenso wenig davon unabhängig gedacht werden kann wie die SJ selbst.

Die Jesuiten entfalteten auch im späteren West- und Ostpreußen rege Aktivitäten und konzentrierten sich – ihrem Gelübde entsprechend – vor allem auf das Bildungswesen. So gründeten sie 1665 auch im damals zu Polen gehörigen Deutsch Krone eines der Jesuitenkollegien. Aufgrund seiner wachsenden Bedeutung mussten 1672 und 1703 jeweils größere Gebäude bezogen werden. Als der Jesuitenorden 1773 vom Papst aufgelöst wurde, erfolgte die Umwandlung in ein katholisches Gymnasium. Zu diesem Zeitpunkt besuchten 200 Schüler die Schule. – An dem 1798 bis 1805 errichteten Gebäude des Gymnasiums erinnert heute noch eine Gedenktafel an das ehemalige Jesuitenkolleg.

Zwischen Konflikt und Verständigung

Bereits die vorangegangenen Erinnerungsorte zeigen, dass die westpreußische Reformationsgeschichte eine ebenso protestantisch-katholische wie deutsch-polnische Beziehungsgeschichte ist, in der gerade auch die polnische Krone als Förderer des Katholizismus in Erscheinung tritt. Ein Blick auf zwei weitere Städte des Königlichen Preußen – Elbing und Thorn – verhilft dazu, dieses Bild zu differenzieren. So steht Thorn einerseits für eine blutige, von der polnischen Krone mitgetragene Eskalation der konfessionellen Konflikte im Jahre 1724, andererseits aber auch für die 79 Jahre zuvor durchgeführten Thorner Religionsgespäche, die ebenfalls vom polnischen König initiiert wurden. Einer ihrer zen­tralen Akteure, der protestantische Ökumeniker Comenius, lebte und wirkte zu dieser Zeit in Elbing. (Diese thematischen Zusammenhänge hat Manfred Richter bereits in der DW-Ausgabe vom April 2016, S. 14f., in größerer Ausführlichkeit erläutert.)

Comenius in Elbing Der den Böhmischen Brüdern angehörende Pädagoge Johann Amos Comenius (1592–1670) genoss bereits zu seinen Lebzeiten europaweite Anerkennung. Sie führte dazu, dass der schwedische Königshof Comenius beauftragte, ein Konzept zur Erneuerung des Schulsystems zu entwickeln. Deshalb kam der Gelehrte 1642 in das schwedisch besetzte Elbing, wo er bis 1648 blieb. Hier verfasste er nicht nur sein Hauptwerk Allgemeine Beratung über die Verbesserung der menschlichen Angelegenheiten (De rerum humanarum emendatione consultatio catholica), sondern unterstützte auch die Vorbereitungen des »Colloquium Charitativum«, das vom 28. August bis zum 22. November 1645 in Thorn stattfand und zur Vermittlung zwischen Katholiken und Protestanten beitragen sollte. Der Elbinger Stadtrat unterstützte Comenius’ Bemühungen und stellte ihm eine Karosse für die Reise nach Thorn zur Verfügung.

Tumult und Blutgericht in Thorn Die Religionsgespräche führten letztlich allerdings nicht zu konkreten Ergebnissen, und das Verhältnis zwischen den Konfessionen blieb weiterhin angespannt. 1724 ereignete sich dann – wiederum in Thorn – der erwähnte offene Ausbruch der Gegensätze. Nachdem die – maßgeblich von den Jesuiten getragene – Gegenreformation in den vorangegangenen Jahren in der lutherisch dominierten Stadt vorangetrieben worden war, kam es am Fronleichnamstag jenes Jahres zum »Thorner Tumult«, bei dem protestantische Bürger das Jesuitenkloster stürmten und verwüsteten. Nun musste bzw. konnte der polnische König August II. mit aller Härte durchgreifen :  Nicht nur, dass sämtliche Hauptkirchen der Stadt der katholischen Kirche übereignet wurden ;  vielmehr wurden am 7. Dezember auch ein Bürgermeister und neun Thorner Bürger öffentlich hingerichtet.

Die Erben der Reformation

Die Reformation führte jedoch nicht nur zu Auseinandersetzungen zwischen der lutherischen Lehre und dem Katholizismus, denn der Protestantismus brachte im Laufe seiner Entwicklung auch aus sich selbst eine ganze Reihe unterschiedlicher Denominationen und Minderheiten hervor, von denen hier nur einige exemplarisch vorgestellt werden sollen.

St. Peter und Paul, Danzig Der nach der lutherischen Reformation bedeutendste Schritt in der weiteren Entwicklung war die Herausbildung der reformierten Konfession. – Nachdem die in der Alten Vorstadt von Danzig gelegene Kirche St. Peter und Paul 1557 lutherisch geworden war, ging sie 1622 an die Danziger Reformierten über. Das calvinistische Bürgertum zeichnete sich vielerorts durch ein ausgeprägtes Erfolgsstreben aus, das Max Weber in seinem berühmten Aufsatz Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus scharfsinnig auf seine theologischen Voraussetzungen hin analysiert hat. Und so verwundert es nicht, wenn wir unter den Gemeindegliedern in St. Peter und Paul späterhin z. B. auch den Kaufmann Johann Uphagen und den bedeutenden Kupferstecher Daniel Chodowiecki entdecken. Die vielleicht bedeutendste Person, die mit St. Peter und Paul in Verbindung steht, ist jedoch der Theologe, Naturwissenschaftler und spätere Entdeckungsreisende Johann Reinhold Forster, der hier als Kandidat wirkte und ins Pfarramt ordinierte wurde.

Heilig Geist-Kirche, Danzig 1817 fasste König Friedrich Wilhelm III. alle lutherischen und reformierten Gemeinden zu einer unierten Landeskirche zusammen. Diejenigen Gemeinden, die den Zusammenschluss aus theologischen Erwägungen ablehnten, mussten scharfe Verfolgung erdulden. Die aus diesem Prozess 1830 hervorgegangene Evangelisch-Lutherische Kirche in Preußen wurde erst 1845 staatlich anerkannt.

Diese »altlutherische« Kirche hatte ihren Schwerpunkt in Schlesien, aber in ganz Preußen Anhänger. Während der 1840er Jahre entstand ein eigener Danziger Pfarrbezirk, und 1854 erwarb man die Heilig Geist-Kirche in der Danziger Tobias­gasse 1b. 1943 umfasste die in der früheren Hospitalkirche ansässige Gemeinde 503 Seelen. 1945 wurde die Kirche schwer zerstört. Nach dem Krieg beschlossen die neuen Machthaber dann eine Nutzungsänderung, in deren Folge das Gebäude seit den 1950er Jahren in den Gebäudekomplex einer Grundschule integriert ist.

Heubuden (Kreis Marienburg / Großes Werder) Mit den Täufern kommt eine protestantische Strömung ins Bild, die in Europa gerade auch von ihren protestantischen Glaubensgeschwistern verfolgt wurde. Deshalb flohen im 16. Jahrhundert viele Täufer nach Danzig und in das Umland der Stadt, wo sich zeitweilig auch ihr Anführer und Namensgeber Menno Simons aufhielt. Einer der Orte, an denen die Glaubensflüchtlinge aus dem flämischen, niederländischen, friesischen, und oberdeutschen Raum ansässig wurden, war Heubuden in der späteren Freien Stadt Danzig. Bis ins 18. Jahrhundert hinein hatte sich dort das Niederländische als Gottesdienstsprache gehalten. 1768 erhielt Heubuden eine eigene Kirche, und Anfang des 20. Jahrhunderts bekam die Gemeinde Heubuden-Marienburg in Marienburg ein eigenes Gemeindehaus. 1929 hatte die Gemeinde 1.092 getaufte Glieder. – Heute erinnern in Heubuden eine Gedenktafel an der ehemaligen Mennonitenkirche, vor allem aber der erhaltene, 2,6 Hektar umfassende Mennoniten-Friedhof an die einstigen Einwohner des Ortes.

Slowinzisches Dorf, Klucken (Kreis Stolp, Pommern) Neben den drei konfessionellen Minderheiten der Reformierten, Altlutheraner und Mennoniten soll zum Schluss noch eine weitere Gruppe berücksichtigt werden :  die Slowinzen, bei denen es sich jedoch nicht um eine innerprotestantische Minderheit handelt. Zur Minderheit wurden die Slowinzen innerhalb der westslawischen Bevölkerung des südlichen Ostseeraums vielmehr durch ihr evangelisches Bekenntnis, das mit einer Nähe zur deutschen Kultur einherging. Damit ergänzen die Slowinzen, die in Pommern zwischen Stolp und Leba lebten, das Bild der katholischen Kaschuben.

Am Ende und nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die große Mehrheit der deutschsprachigen Slowinzen vertrieben. Die slowinzischen Muttersprachler durften in ihrer Heimat bleiben, was freilich das Aussterben des – dem Kaschubischen verwandten – Slowinzischen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nicht zu verhindern vermochte. Dies mag man heute umso mehr bedauern, als angenommen werden kann, dass etwa der Konfirmanden­unterricht in dieser Region noch bis in die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts hinein in dieser Sprache gehalten wurde. Heute dokumentiert nur noch das Freilichtmuseum »Slowinzisches Dorf« in Klucken das Leben dieser west­slawischen Protestanten.