Der „Erwerb“ Westpreußens durch Friedrich II.

Motive und Handlungsoptionen des preußischen Staates

Von Peter Paziorek

Am 5. August des Jahres 1772 – vor 250 Jahren – schaffte die „Erste Polnische Teilung“ die Voraussetzung dafür, dass der Preußenkönig Friedrich II. einen Teil des polnischen Staatsgebietes in Besitz nehmen und daraus eine eigene Provinz bilden konnte, die er im folgenden Jahr „Westpreußen“ nannte.

In jüngerer Zeit wird diese Annexion vielfach pauschal als völkerrechtswidrig bezeichnet. Dabei wird allerdings der Eindruck vermittelt, als wären die heutigen völkerrechtlichen Regeln zur Anerkennung eroberter Gebiete und das heutige Selbstbestimmungsrecht der Völker identisch mit den zwischenstaatlichen Gepflogenheiten und moralischen Prinzipien früherer Jahrhunderte. Stattdessen galten in dieser Zeit auch andere handlungsleitende Normen als legitim: sei es das Gebot der Staatsräson, sei es die Notwendigkeit, das Kräftegleichgewicht zwischen den europäischen Staaten auszutarieren. Unter dieser Voraussetzung erscheint es angeraten, die geschichtlichen Vorgänge, die zur Entstehung Westpreußens geführt haben, detaillierter zu erfassen und daraufhin auch differenzierter zu beurteilen.

Die Entwicklung Preußens in einem konfliktreichen Umfeld

Das Gebiet am Unterlauf der Weichsel hatte der deutsche Ritterorden nach dem Zweiten Frieden von Thorn am 19. Oktober 1466 an das Königreich Polen abtreten müssen. Weitere große Teile des späteren Ostpreußens verblieben dagegen beim restlichen Ordensstaat. Die isolierte Lage dieses Reststaates hatte zur Folge, dass die außenpolitische Situation für ihn im Laufe der Jahrzehnte immer schwieriger wurde. Mit großen Hoffnungen wurde daher im Orden begrüßt, dass Markgraf Albrecht von Brandenburg-Ansbach, mütterlicherseits ein Neffe des polnischen Königs Sigismund, 1510 die Hochmeisterwürde annahm, nachdem er erst zu diesem Zwecke das Ordensgewand angelegt hatte. Mit großem Selbstbewusstsein versuchte Albrecht, sich der Forderung des Polenkönigs auf Leistung eines Huldigungseides zu entziehen.

Diese Frage wurde erst im Frieden von Krakau am 8. April 1525 endgültig geklärt: Unter der Bedingung, dass Albrecht den Lehnseid für sich und seine Erben leistete, erkannte ihn der Polenkönig als erblichen Herzog von Preußen an. Von einer Herrschaft des Ordens in Preußen war somit keine Rede mehr. Aus dem Vertrag ergab sich zudem, dass erst nach Aussterben aller männlichen Leibeserben des Herzogs und seiner Nebenlinie das Land wieder an die Krone Polens zurückfallen müsste. Auch hierbei wurde der Orden nicht mehr bedacht.

Im Jahr 1599 regelte ein Hausvertrag zwischen dem Kurfürsten Joachim Friedrich von Brandenburg und dem Markgrafen Georg Friedrich als dem Vertreter der fränkisch-preußischen Linie die Unteilbarkeit sämtlicher hohenzollerscher Lande einschließlich Preußens zugunsten der brandenburgischen Linie. Als 1603 Fürst Georg Friedrich in seinem Erbland Ansbach verstarb, hinterließ er Preußen als ein durchaus blühendes Land. Dennoch war aufgrund der Kriege zwischen Schweden und Polen und der militärischen Unterlegenheit des preußischen Staates die Situation der Hohenzollern als Herzöge von Preußen äußerst gefährdet. Die Beurteilung der späteren Entwicklungen bis ins Jahr 1772, also bis zur Ersten Polnischen Teilung, kann folglich nur dann zutreffend erfolgen, wenn auch die Probleme der Brandenburger Kurfürsten und Herzöge von Preußen bei der Sicherung ihres Landes berücksichtigt werden.

Für jeden Hohenzollern war es von Bedeutung, die Anerkennung des ehemaligen Ordenslandes Preußen als eines eigenen, souveränen Territoriums durch die Nachbarstaaten zu erreichen. Da dieses Gebiet außerhalb der Grenzen des Römischen Reiches Deutscher Nation lag, erfolgte dies zunächst durch Lehnsunterstellung unter die Polnische Krone. Trotz dieses diplomatischen Erfolges des Brandenburgischen Kurfürsten blieb seine Landesherrschaft als Herzog von Preußen weiterhin zerbrechlich. Nach dem Westfälischen Frieden des Jahres 1648 erstreckte sich das brandenburgische Territorium, die westdeutschen Gebiete außer Acht gelassen, von der Altmark bis zur Ostgrenze Hinterpommerns, wobei der Abstand zum Herzogtum Preußen von dort aus immerhin noch 120 Kilometer betrug, was in einem Konfliktfall durchaus problematisch sein konnte.

Stabilere Verhältnisse ergaben sich erst mit den Verträgen von Wehlau und Oliva in den Jahren 1657 und 1660. Kurfürst Friedrich Wilhelm, der späterhin der Große Kurfürst genannt wurde, vermochte im Zweiten Nordischen Krieg von 1655 bis 1660 sein Heer bedeutend zu verstärken und erreichte es, dass Schweden und Polen ihn nicht aus seinem Herzogtum hinausdrängen konnten. Nach der Niederlage bei Warschau 1656 gab der schwedische König sogar seinen Plan auf, Preußen seinerseits zum Lehen zu nehmen. In einem am 19. September 1657 bei Wehlau unterzeichneten Geheimvertrag erklärte sich auch Polen bereit, dem Kurfürsten Preußen zu überlassen, so dass er dadurch die volle Souveränität über das Herzogtum erwarb. Dieses Verhandlungsergebnis wurde schließlich im Vertrag von Oliva am 3. Mai 1660 international verbindlich anerkannt, da nun auch Österreich, Polen und Schweden Mitunterzeichner waren.

Ganz uneingeschränkt war diese Souveränität jedoch noch nicht; denn innerhalb des Vertrages von Wehlau wurde die Souveränität auf die unmittelbaren männlichen Nachkommen des Kurfürsten begrenzt. Falls diese ausstarben, sollte Preußen an Polen zurückfallen; und alle preußischen Untertanen hatten sich auf diese Eventualität durch Eid zu verpflichten. Beim jeweiligen Thronwechsel musste deshalb polnischerseits festgestellt werden, ob der neue Herrscher tatsächlich in direkter Linie vom Kurfürsten Friedrich Wilhelm abstammte. Dessen Enkel, König Friedrich Wilhelm I., markierte diesen Sachverhalt in seinem politischen Testament von 1722. Er riet dabei seinem zukünftigen Nachfolger, Kronprinz Friedrich, bei seinem Regierungsantritt die Wahrnehmung der polnischen Rechte zu umgehen. Denn wenn es Polen gelänge, auf die Besitzergreifung des neuen preußischen Königs Einfluss zu gewinnen, so könne das langfristige Schäden für Brandenburg-Preußen hervorrufen. Tatsächlich wurde dieses Recht Polens auf eine Überprüfung des Thronwechsels in Preußen erst im Zusammenhang mit der Ersten Teilung Polens 1772 aufgehoben.

Diese Einzelfallregelung lässt erkennen, wie schwierig für Preußen die Verhältnisse in Mittel-Osteuropa noch 1722 gewesen sind. Das Bewusstsein aller hohenzollerschen Kurfürsten für die historische Bedingtheit ihrer Erfolge war somit verbunden mit dem Wissen, dass das Erreichte auch wieder rückgängig gemacht werden könnte. Im Gegensatz zu vielen anderen europäischen Mächten war das eigene Territorium des Hauses Hohenzollern wegen seiner geografischen Zersplitterung in hohem Maße verletzbar. So nahm Friedrich I. den Titel „König in Preußen“ wohl auch deshalb an, weil er mit der neuen Krone sein Staatsgebiet im Osten vor etwaigen Ansprüchen Polens schützen wollte. Die Krönung des Kurfürsten Friedrich III. von Brandenburg am 18. Januar 1701 in Königsberg zum König in Preußen ergab eine Rangerhöhung, die politisch zur Absicherung des eigenen Besitzes beitragen konnte.

Machtspiele auf dem Weg zur Teilung Polens

Eine neue Konstellation ergab sich im Laufe des Großen Nordischen Krieges (1700–1721), in dem sich Russland unter Zar Peter dem Großen die Stellung einer europäischen Führungsmacht erkämpfte. Dieser überraschende Aufstieg des Zarenreiches bewirkte schnell einen maßgeblichen russischen Einfluss auf die inneren Verhältnisse Polen-Litauens. Zugleich war der Hohenzollernstaat infolge der Zerrissenheit seines Territoriums von allen Nachbarn Polen-Litauens am stärksten von diesem Wandel der Machtverhältnisse in Osteuropa betroffen. Friedrich Wilhelm I. musste notwendigerweise die Hegemonialstellung Russlands in Polen anerkennen, wie es dann im Preußisch-russischen Vertrag von 1720 zum Ausdruck kam.

Trotz der früheren diplomatischen Erfolge blieb die Landesherrschaft der Hohenzollern in Preußen folglich gefährdet. Drastische Unterbrechungen der Landeshoheit erfolgten im Laufe des Siebenjährigen Krieges (1756–1763): 1757 musste das Königreich Preußen der Russischen Kaiserin Elisabeth huldigen, auch wenn zunächst nur ein Teil des Landes von russischen Truppen besetzt worden war. Im Jahre 1758 erfolgte ein erneuter Einmarsch, der nunmehr – und bis ins Jahr 1762 – zur Besetzung des gesamten Gebietes führte. Dieser Besetzung war aber schon am 1. Januar 1758 ein kaiserlich-russisches Manifest vorausgegangen, wonach am 24. Januar in Königsberg sämtliche Behörden, und in den folgenden Tagen und Wochen auch alle Behörden im Land, den Huldigungseid gegenüber der Russischen Kaiserin zu leisten hatten. Die Einnahmen von Behörden und Privatpersonen waren nun an die Kaiserin zu adressieren, und alle Amtshandlungen ergingen in ihrem Namen. Sie übte während dieser Zeit in vollem Umfang alle Hoheitsrechte im Königreich aus, das als russische Provinz angesehen wurde und nun tatsächlich den Namen Neu-Russland führte.

Nach dem Ende des Siebenjährigen Krieges verstärkten diese traumatisierenden Erfahrungen in der preußischen Außenpolitik die Überlegung, durch die Gewinnung eines Teils des polnischen Staatsgebietes im sogenannten Königlichen Preußen eine territoriale Verbindung zwischen Pommern und dem Königreich Preußen herzustellen. In Berlin beabsichtigte man aber nicht, dieses Ziel durch eine neue kriegerische Auseinandersetzung zu erreichen; denn Preußen war sich über seine eigenen akuten wirtschaftlichen und militärischen Defizite durchaus im Klaren.

Überhaupt wusste man bereits aus früheren Konstellationen, dass Preußen in Ost-Mitteleuropa nur eine relativ schwache Position einnahm. So war beispielsweise im Jahre 1717 ein Konflikt, der sich in Polen zwischen König und Adel ergeben hatte, unter russischem Einfluss beigelegt worden, wobei u. a. geregelt wurde, dass das gesamte Polnisch-Litauische Reich nur über reguläre Truppen in Stärke von 24.000 Mann verfügen dürfe. Damit geriet Polen-Litauen gegenüber seinen Nachbarn militärisch hoffnungslos ins Hintertreffen, was nun schrittweise seitens Russlands zur weiteren Stärkung der eigenen Position ausgenutzt wurde. So operierte während des Siebenjährigen Krieges das zaristische Heer gegen Preußen vom Gebiet Polens aus, obwohl die polnische Adelsrepublik selbst offiziell neutral geblieben war.

Obwohl Russland am Ende des Siebenjährigen Krieges auf die ursprünglichen Annexionspläne gegenüber Preußen verzichtete, blieb die Lage an dessen östlicher Flanke überaus kritisch, da russische Truppen weiterhin in Polen operierten. Das führte dazu, dass Friedrich seine Politik der Verständigung gegenüber Russland wieder aufnahm – zumal er das Ziel, eine Landverbindung nach Ostpreußen über polnisches Staatsgebiet herzustellen, keineswegs aufgab: Er war sich dabei bewusst, dass die Abtretung des unteren Weichsellandes durch den polnischen Staat nur mit Zustimmung Russlands erfolgen könne.

Nach mehreren polnischen Reformideen zur Innenpolitik, die allesamt gescheitert waren, kam es am 24. Februar 1768 zu einem neuen polnisch-russischen Vertrag, der gezwungenermaßen vom polnischen Reichstag gebilligt wurde. Dieser sogenannte „Ewige Vertrag“ beinhaltete auch eine russische Garantie für die territoriale Integrität und politische Souveränität Polens. Trotz dieses Vertrages nahmen die Ereignisse aber noch in diesem Jahr eine völlig andere Richtung, und zwar auf eine Teilung Polens hin: Im Königreich Polen verstärkte sich der Unmut des polnischen Adels über die faktisch bestehende russische Protektoratsherrschaft und die offene Missachtung der eigenen Souveränität. In Polen wurde von der Opposition somit verstärkt die Rücknahme des Ewigen Vertrages gefordert. Das wiederum nahm Russland zum Anlass, mit eigenen Truppen wiederum in Polen einzumarschieren. Nur wenige Monate später folgte im Herbst eine Kriegserklärung des Osmanischen Reiches an das Russische Zarenreich, ausgelöst durch die inneren Unruhen in Polen. Das Osmanische Reich hatte die russische Einflussnahme in Polen schon länger missbilligt und nutzte die Unruhen, um sich mit den Aufständischen zu solidarisieren. Russland befand sich somit in einer Zwei-Fronten-Situation, wobei die Gefahr bestand, dass Österreich-Habsburg sich dadurch ebenfalls zu einem Kriegseintritt provoziert fühlen könnte. Preußen seinerseits bemühte sich, die explosive Lage durch den Plan zu entschärfen, dass sich die drei Großmächte darauf einigen sollten, sich jeweils Teile des polnischen Staatsgebietes abtreten zu lassen.

Unter dem wachsenden Druck aufständischer polnischer Truppen willigte die Zarin Katharina II. letztlich ein und ebnete so den Weg zu einer Teilung Polens. Durch diese Strategie wollte Preußen – wie später auch Habsburg – einen alleinigen Machtzugewinn des Zarenreiches verhindern. Bei seinen diplomatischen Bemühungen war Friedrich II. bestrebt, einen Weg zu finden, auf dem Verschiebungen des Mächtegleichgewichts und auch weitere kriegerische Verwicklungen in Osteuropa vermieden werden könnten. Diese Politik sollte aus preußischer Sicht aber auch weiterhin zur Abtretung des polnischen Weichsellandes an die Hohenzollern führen – was schließlich gelang.

Nachdem schon am 17. Februar 1772 eine russisch-preußische Verständigung über das weitere Vorgehen erzielt und schriftlich niedergelegt worden war, wurde am 5. August 1772 schließlich der Teilungsvertrag zwischen Preußen, Russland und Österreich unterzeichnet. Dieser Vertrag bedeutete für Polen einen Verlust von über einem Drittel seiner Bevölkerung sowie von über einem Viertel seines bisherigen Staatsgebietes. Preußen erhielt zwar der Bevölkerung und Größe nach den kleinsten Anteil, strategisch gesehen aber war dieses erworbene Territorium für Preußen von höchster wirtschaftlicher und militärischer Bedeutung. Zudem durfte Friedrich II. sich künftig König von Preußen – und nicht nur König in Preußen – nennen.

Die Annexion des unteren Weichsellandes und ihre Nachwirkungen

Schon am 27. September 1772 fand die feierliche Huldigung der Stände im großen Remter der Marienburg statt. Zuvor, am 13. September 1772 und an den folgenden Tagen, hatte Friedrich II. unter Erlass eines Patentes von Polnisch-Preußen, dem Bistum Ermland sowie den drei Woiwodschaften Kulm, Marienburg und Pommerellen und außerdem vom Netzedistrikt Besitz ergriffen. Für dieses Territorium wurde von Friedrich II. durch Kabinettsorder vom 31. Januar 1773 der Name „Westpreußen“ bestimmt. Die Inbesitznahme des Netze-Gebietes erfolgte allerdings nicht in einem Schritt, sondern durch zweimalige Erweiterungen in den Jahren 1773 und 1774. Dadurch erfolgte die Huldigung des Preußischen Königs im Netzedistrikt erst am 22. Mai 1775.

Für das Königreich Polen bedeutete die Abtrennung größerer Gebiete seines Territoriums eine tiefe Zäsur, da jetzt in keiner Weise mehr von einer Vormachtstellung Polens gesprochen werden konnte. Damit war zugleich ein wichtiges Ziel der russischen Politik erreicht, die schon frühzeitig konsequent darauf gerichtet war, mit Polen an den eigenen Westgrenzen einen verarmten und geschwächten Klientelstaat als Puffer gegenüber den anderen europäischen Mächten zu haben. Genau zu diesem Zweck erkaufte sich die Russische Zarin auch den Gehorsam von höchsten Amtsträgern der Polnischen Republik. Nur Russland besaß die politischen Mittel, um in Polen in massiver Form auf die innenpolitische Entwicklung Einfluss zu nehmen. Russland glaubte sogar anfangs, es könnte sein Protektorat in Polen auf unbegrenzte Zeit aufrechterhalten, was aber nicht gelang; denn es wurde immer deutlicher, dass die Entsendung russischer Truppen zur Niederschlagung der Aufstände in Polen das gesamte Machtgleichgewicht in Europa zu zerstören drohte. Russland musste daher, um freie Hand in Polen zu haben, die Befürchtungen Preußens und Österreichs beschwichtigen, indem es territorialen Kompensationen zugunsten dieser Staaten zustimmte. Machtpoltisch ergab sich somit aus dem Ziel der russischen Zarin, in Polen russlandfeindliche Reformen um jeden Preis zu zerschlagen, die Notwendigkeit, Preußen und Habsburg mit territorialen Zugeständnissen zum Stillhalten zu bringen.

Es erscheint daher als unzulässig verkürzt, Friedrich II. als den wahren Architekten der Ersten Teilung Polens zu bezeichnen. Er zielte angesichts des aggressiven Vorgehens Russlands gegen Polen zunächst darauf ab, aus dieser Politik keine tiefgreifenden Folgen für das Machtgleichgewicht in Mittel-Osteuropa entstehen zu lassen. Überdies muss Friedrich II. vor dem Hintergrund der preußischen Staatsräson durchaus zugestanden werden, dass er keinesfalls die Zerstörung des polnischen Staates angestrebt, sondern sich vielmehr auf die Inbesitznahme eines Gebietes konzentriert hat, das von den Hohenzollern hinsichtlich der Sicherung ihres Staatsgebietes als äußerst wichtig angesehen wurde.

Nach der Unterzeichnung der Teilungsverträge wurden der Polnische König und der Polnische Reichstag – nicht zuletzt durch Bestechung – dazu gebracht, diesen Verträgen 1773 auch völkerrechtlich zuzustimmen. Polen blieb nach der Abtretung der betroffenen Gebiete an die drei Teilungsmächte staatsrechtlich ein handlungsfähiger Staat, denn die Regelung von 1772 hatte eben nicht eine Aufteilung Polens zur Folge. Dies wird heute oft übersehen. Dagegen müssen die Zweite und Dritte Teilung Polens als eindeutiges Unrecht bezeichnet werden. Schon der zweite Teilungsvertrag, durch den das historische Großpolen neben Danzig und Thorn an Preußen fiel, brachte ein heterogen zusammengesetztes polnisches Staatsgebiet hervor, das kaum mehr als tragfähig oder lebensfähig angesehen werden konnte. Durch die Dritte Teilung schließlich verschwand Polen gänzlich von der europäischen Landkarte und sollte nach dem Willen der Teilungsmächte dort auch nie wieder auftauchen. Damit wurde aus der Brandenburgisch-Preußischen Politik der Absicherung des eigenen östlichen Staatsgebietes durch Inkorporation des Gebietes an der Weichsel eine Politik der Zerstörung eines Nachbarstaates. Das preußische Annexionsstreben unter dem Nachfolger Friedrichs hatte nichts mehr mit der Wahrnehmung realer preußischer Interessen zu tun, vielmehr war es nichts anderes als hemmungslose Territorialpolitik.

Angesichts der rigorosen Annexionspolitik hatte Freiherr vom Stein schon im Juni 1807 die polnischen Teilungen in seiner Nassauer Denkschrift, die zur Grundlage der preußischen Staatsreform werden sollte, folgendermaßen verurteilt:

Die Teilung von Polen zeigte das traurige Bild einer durch fremde Gewalt unterjochten Nation, die in der selbständigen Ausbildung ihrer Individualität gestört wurde, der man die Wohltat einer sich selbst gegebenen freien Verfassung entriss und an ihrer Stelle eine ausländische Bürokratie aufdrang.

Gleichwohl wurde auf dem Wiener Kongress 1814/15 das fatale Bemühen, Polen möglichst niederzuhalten, auf Druck Russlands von den Teilungsmächten fortgesetzt. Für Russland kam nur ein polnischer Staat in Betracht, der durch Personalunion dem russischen Zaren unterstellt war. Der Wiener Kongress, dessen Ziel es eigentlich sein sollte, die durch Napoleon mit Gewalt herbeigeführte Neuordnung Europas durch eine Wiederherstellung legitimer Verhältnisse rückgängig zu machen, bestätigte vielmehr ausdrücklich die vorangegangene finale Teilung Polens.

Bischof Dr. Carl Maria Splett zum 120. Geburtstag

Danzigs Oberhirte in schweren Zeiten

Von Stefan Samerski

In diesen Wochen jährt sich zum 120. Mal der Geburtstag des letzten deutschen Bischofs von Danzig, Dr. Carl Maria Splett (1898–1964). Wie kaum ein anderer Oberhirte aus den ehemals deutschen Ostgebieten ist er noch heute im polnisch-­deutschen Dialog präsent. Das hat zahlreiche Ursachen.

Da ist zunächst das tragische Schicksal eines Geistlichen, der zwischen die Mühlsteine von gleich zwei totalitären Regimen geraten war. Und in beide Konflikte geriet er ohne persönliche Schuld und ohne weiteren persönlichen Beistand. Ein eigentlich lebensfroher Mensch, der allein seinen Weg gehen musste, ohne daran zu zerbrechen !  Der zweite Grund sind seine letzten Lebensjahre, die er seit 1956 in der Bundesrepublik Deutschland verbrachte :  Splett war seit dem Tod des ermländischen Bischofs Maximilian Kaller 1947 der letzte kirchliche Amtsträger, der in der neuen Heimat seinen Titel und seine Funktion aus der alten Heimat im deutschen Osten weiterführte. Bis zu seinem Tod hielt er gegen Widerstände aus Polen, Deutschland und sogar Rom am Amt eines Bischofs von Danzig fest. Der dritte Grund für unser Erinnern ist mit dem zweiten verbunden :  Als letzter deutscher Bischof stand er in der revisionsorientierten Adenauer­-Ära im Scheinwerferlicht der politischen Öffentlichkeit. Nur noch über seine Person hatte man in den ausgehenden fünfziger und beginnenden sechziger Jahren ein Faustpfand der deutschen Ostgebiete in der Hand. Das machte diese eigentlich unpolitische Persönlichkeit – obzwar aus einer Politikerfamilie stammend – ungefragt zu einem veritablen Politikum im Deutschland des Wirtschaftswunders. Sein bewegtes Schicksal und der Ost-West-Konflikt führten dann auch zum vierten Grund für unser Gedächtnis :  Forschung und Publizistik nahmen sich schon zu Lebzeiten Spletts seiner Tätigkeit in Danzig an. Von der einen Seite verschrien als ‚Polenfresser‘, wurde er von der anderen Seite als ‚Märtyrerbischof‘ tituliert, der eigentlich zum Wohle auch seiner polnischen Diözesanen gewirkt ­hatte.

Dieser veritable Historikerstreit, der mit einem Schauprozess 1946 einsetzte und bis über die Politische Wende von 1989/90 hinweg fortgesetzt wurde, sicherte Splett ein Überleben im deutsch-polnischen Gedächtnis. In den letzten Jahren ist es wesentlich ruhiger um diesen Kirchenmann geworden ;  im ­August 2017 sind als Zeichen der Versöhnung im Beisein von zwei Weihbischöfen persönliche Bischofsinsignien Spletts an das Danziger Diözesanarchiv übergegeben worden. Allerdings steht eine offizielle Rehabilitation Spletts von staatlicher Seite immer noch aus, die von der derzeitigen politischen Führung Polens wohl kaum zu erwarten ist.

Werdegang in der Zwischenkriegszeit

Der als Sohn eines Schulrektors und Zentrumspolitikers am 17. Januar 1898 in Zoppot geborene Carl Maria Splett trat im Herbst 1917 in das Priesterseminar in Pelplin ein, wo er 1921 die Priesterweihe erhielt und nach juristischen Spezialstudien in Rom (Dr. iur. can.) sowie pastoraler Tätigkeit in Prangenau und Danzig 1935 mit der wichtigen Dompfarrei in Danzig-Oliva betraut wurde. Der erste katholische Bischof von Danzig, Eduard Graf O’Rourke, wurde 1938 wegen der Einrichtung von polnischen Personalpfarreien zum Rücktritt gezwungen. Als der Warschauer Nuntius den Pelpliner Professor Franz Sawicki als Nachfolger auswählte, verweigerten die Nationalsozialisten Sawicki die Einreise nach Danzig und drohten, ihn an der Staatsgrenze zu verhaften, weil er nominell Pole war. Als Ersatzmann fiel die Wahl des Nuntius nun auf Splett, der den päpstlichen Vertreter bei dessen Danzig-Aufenthalten begleitet hatte. Damit stand Splett an der Spitze eines kleinen Bistums zwischen Deutschland und Polen, das seit 1933 im Würgegriff der Nationalsozialisten war – sicher noch intensiver als west- und süddeutsche Diözesen.

Der junge Splett nahm die Leitung des Bistums selbstbewusst und zielstrebig in die Hand. Gegenüber den Nationalsozialisten zeigte er in Verhandlungen zunächst Konzilianz und konnte damit anfangs die Wogen nach dem Eklat um Sawicki glätten. Inhaltlich machte er seine Position aber gleich zu Anfang deutlich : In einem in deutscher und polnischer Sprache herausgegebenen Hirtenschreiben vom 2. Februar 1939 verdammte er in rückhaltloser Weise das nationalsozialistische Regime :  „Niemals zuvor in der Geschichte des Christentums hatte der Unglauben eine derart wunderbare Ernte wie in unseren Zeiten.“

Bischof von Danzig und Administrator der Diözese Kulm

Der Ausbruch des Zweiten Weltkriegs veränderte die kirchliche Situation in Danzig nochmals. Splett begrüßte ganz offen die Rückkehr Danzigs zum Deutschen Reich und dankte Gott für die Rettung vor der befürchteten Zerstörung der Stadt, konnte aber nicht verhindern, dass die Nationalsozialisten die gesamte polnischsprachige Seelsorge im Bistum Danzig eliminierten. Von den insgesamt zehn Geistlichen (sechs mit polnischer Staatsbürgerschaft und vier deutsche Danziger), die in den ersten Wochen inhaftiert wurden, starben sieben im Konzentrationslager oder anderswo. Dem nationalsozialistischen Terror fielen später aber auch deutsche Priester zum Opfer, wie beispielsweise der Dekan Johannes Aeltermann, die Pfarrer Dr. Bruno Binnebesel, Ernst Karbaum und Robert Wohlfeil. Schon am 5. September 1939 suchte Splett den Gauleiter persönlich auf und protestierte gegen die Verhaftungen. Diese und weitere Interventionen blieben zumeist ohne Erfolg.

Noch dramatischer gestaltete sich die Situation in der angrenzenden polnischen Nachbardiözese Kulm mit Sitz in Pelplin, die Ende Oktober 1939 faktisch ohne Leitung war. Die blutigen Ereignisse von September/Oktober 1939 und die Flucht der Mehrzahl der verschonten polnischen Geistlichen in den folgenden Wochen führten dazu, dass auch in den Pfarreien faktisch keine Priester mehr anzutreffen waren und daher die Seelsorge fast vollständig zum Erliegen kam. Daraufhin ernannte die Römische Kurie Anfang Dezember Splett zum Apostolischen Administrator des polnischen Bistums – eine Aufgabe, die Splett als „ein Kreuz“ ansah. Nach seiner Ernennung verbesserte sich die dortige pastorale Situation in wenigen Monaten. In kürzester Zeit besuchte Splett zahlreiche Pfarreien des Bistums Kulm, hielt persönlich Unterricht für die Jugend ab und predigte in deutscher Sprache, da das Polnische auch in der Kirche verboten war. Er zog aus den deutschen Nachbardiözesen, aber auch aus dem fernen Köln weitere Priester heran, so dass bis Mitte Januar 1940 insgesamt 140 Geistliche Dienst im Bistum Kulm tun konnten.

Auseinandersetzung um die polnischsprachige Beichte

Als Teil der NS-Germanisierungspolitik verlangte der Gauleiter das rigorose und ausnahmslose Ausmerzen alles Polnischen. Jede Missachtung wurde hart bestraft. Schon im Oktober 1939 verbot die Gestapo allen polnischen Priestern des Bistums Kulm die Sakramentenspendung in der Muttersprache. Anfang Januar 1940 war auch die Beichte explizit davon betroffen. Splett setzte dies nicht um und wehrte sich anfangs dagegen. Nun spitzten sich die Ereignisse dramatisch zu. Als Druckmittel wurden Danziger Priester, die schon am 1. September 1939 in Haft genommen worden waren, am 21. März 1940 ermordet. Gauleitung und Gestapo drohten ständig, weitere Priester zu verhaften, wenn ihre Forderungen nicht erfüllt würden. Angesichts dieser Drohkulisse gab der Bischof im Mai das Verbot der polnischen Beichte im Amtlichen Kirchenblatt der Diözesen Danzig und Kulm heraus. Faktisch wurde dieser Beichterlass in Westpreußen jedoch umgangen, da selbst viele deutsche Pfarradministratoren unter Einsatz ihres Lebens polnische Beichten hörten ;  auch Bischof Splett hatte dies gesichert getan. Unzweifelhaft hat Splett durch diesen Erlass, der zwar dem Kirchenrecht widersprach, die Seelsorge im annektierten Gebiet gerettet.

Haft, Hausarrest und Ausreise ins Bundesgebiet

Die Besetzung der Bistumsgebiete im März 1945 machte dieser Situation ein Ende. Als Splett am 9. August 1945 ein weiteres Mal verhaftet wurde, erhielt er vom polnischen Primas ­Augustyn Kardinal Hlond die Nachricht, dass er mit Wirkung vom 1. September von seinen Funktionen als Apostolischer Administrator von Kulm und als Bischof von Danzig entpflichtet sei. Dabei hatte Hlond klar seine vatikanischen Vollmachten übertreten. Auf sein Danziger Bistum hat Splett allerdings nie verzichtet ;  faktisch hörte jedoch mit dem 1. September 1945 das deutsche Bistum Danzig auf zu bestehen. Nun verurteilte die Spezialstrafkammer Danzig den Bischof nach nur wenigen Prozesstagen und marginalen Verteidigungsmöglichkeiten am 1. Februar 1946 zu einer harten Strafe, da er sich vorgeblich polenfeindlich verhalten hätte. Vor allem wurde ihm sein verhängnisvoller Beichterlass zur Last gelegt. Er wurde anschließend in das größte polnische Gefängnis, nach Wronki bei Posen, gebracht, wo er unter menschenunwürdigen Bedingungen und Torturen fast acht Jahre einsaß. Nach Verbüßung der Haftzeit wurde er im August 1953 ohne neues Gerichtsurteil weiterhin festgehalten, zunächst im Dominikanerkloster in Stary Borek (Südpolen), dann bei den Franziskanerobservanten in Dukla (Beskiden), wo er isoliert und unter strenger Aufsicht lebte.

Das politische Tauwetter in Polen wirkte sich im Sommer 1956 auch für Splett günstig aus :  Ende des Jahres wurde er in den Westen abgeschoben. Mit seiner überraschenden Ankunft am Rhein löste er eine Welle von kirchenpolitischer Aufmerksamkeit aus, die auch noch nach seinem Tode nicht abebbte. Zunächst musste er sich ganz neu orientieren, traf aber schon im Januar 1957 mit den heimatvertriebenen Danzigern zusammen, deren seelsorgliche Betreuung er nun organisierte und – zumindest rein zahlenmäßig – zu einem Höhepunkt führte.

„Bischof von Danzig“ im Exil

Anfang März 1957 reiste er nach Rom, wo er von Pius XII. in Privataudienz empfangen wurde. Dieser bezeichnete ihn voller Hochachtung als ‚Bekennerbischof‘ und beließ ihm den Titel ­eines Bischofs von Danzig. Damit war er für die Heimatvertriebenen in der Bundesrepublik Deutschland ein beliebter Ansprechpartner und für die politischen Größen der Adenauer-­Ära eine Symbol- und Erinnerungsfigur ersten Ranges. Ende 1956 wünschte ihm der deutsche Bundespräsident Theodor Heuss (1949–1959) hier auf Erden „ewiges Leben“, um deutsche Ansprüche gegenüber Polen in der Gestalt des letzten noch lebenden Oberhirten aus dem Osten aufrecht zu erhalten. Am 10. Februar 1960 wurde Splett sogar das Große Verdienstkreuz der Bundesrepublik Deutschland verliehen.

Als Bischof von Danzig nahm er am Zweiten Vatikanischen Konzil (1962–65) teil und ließ hier seine persönlichen Erfahrungen einfließen. So forderte er eine theologische Erklärung über den Menschen in seiner personalen Würde, seinem Ursprung und Verhältnis zu seinem Nächsten. Er warnte nicht nur vor den Irrtümern des Kommunismus und Materialismus, sondern ebenso vor den Gefahren der Vermassung und Übertechnisierung. In Rom ging Splett auf die polnischen Bischöfe freundschaftlich zu und förderte durch sein offenes, herzliches und geselliges Wesen die brüderliche Eintracht der Konzilsväter. Mit dem Bischofs-Koadjutor von Danzig / Gdańsk, Edmund Nowicki, führte er ein ebenso freundschaftliches Gespräch wie mit Kardinal Stefan Wyszyński. Nach Düsseldorf zurückgekehrt, starb Splett ganz unerwartet am 5. März 1964 in seiner Wohnung.

Abschied und Nachleben

Spletts Beerdigungsfeier in Düsseldorf wurde zu einer politisch-religiösen Manifestation. Etwa 3.500 Trauergäste waren zum Requiem gekommen, darunter der Kölner Erzbischof Frings und der Apostolische Nuntius Corrado Bafile. Die Bundesrepublik war durch Familienminister Bruno Heck vertreten, das Land Nordrhein-Westfalen direkt durch Ministerpräsident Franz Meyers. Fünf Bischöfe feierten die Statio am Sarg, und Zehntausende Gläubige nahmen an der Überführung des Toten nach St. Lambertus teil. Die Pflege seiner Memoria, die nahezu gleichzusetzen war mit der Erinnerung an die verlorene Heimat, erfolgte vor allem in Düsseldorf, das zum Zentrum der Danziger Katholiken in der Bundesrepublik geworden war. In Polen verweigerte man ihm ideologiebedingt jede greifbare Erinnerung. Splett war längst zu einem Politikum ersten Ranges geworden. Die deutschsprachige Literatur der fünfziger und sechziger Jahre – selbst die wissenschaftliche – war von Achtung und Respekt gegenüber der überlangen Gefangenschaft des ‚Bekennerbischofs‘ geprägt. Die sozialistisch bestimmte Forschung Polens war dagegen auf den Beichterlass vom Mai 1940 fixiert und entwarf das Bild eines polenfeindlichen Oberhirten. Man ließ dabei die Zwangssituation des Bischofs außer Acht und unterstellte Splett eine deutliche Nähe zum nationalsozialistischen Regime. Die staatlichen Schulen vor allem in Nordwestpolen popularisierten solche publizistischen Hasstiraden und ließen Splett als ‚Polenfresser‘ durch den Unterricht geistern.

Die wiedergewonnene politische Freiheit führte in Polen zu einer neuen Sicht der Dinge :  Der Danziger Propst Stanisław Bog­danowicz zeichnete ein durchweg positives Bild von Splett :  Er attestierte dem Bischof „keinerlei niedere Beweggründe, Anti­polonismus oder Germanisierungswillen […], sondern ganz im Gegenteil, der Bischof [hat mit dem Beichterlass] das Ziel [verfolgt], von der polnischen Gemeinschaft zu retten, ‚was noch zu retten war‘“. Polnischerseits erkannte man jetzt die Zwangssituation, unter der Splett in den Jahren 1938 bis 1945 handelte, an und desavouierte seinen Prozess von 1946 als stalinistische Abrechnung mit der Kirche. Auf deutscher Seite strich man nach 1989 mehr und mehr die Verständigungsbereitschaft Spletts mit Polen heraus, und um das Jahr 2000 verzeichnete man sogar hüben wie drüben einen weitgehenden Konsens in der öffentlichen Meinung. In der renommierten Krakauer Wochenzeitschrift Tygodnik Powczechny diskutierte man im Millenniumsjahr auf hoher Ebene sogar, ob man Splett nicht rehabilitieren und seine sterblichen Überreste von Düsseldorf nach Danzig überführen solle. Bis heute ist bekanntlich alles beim Alten. Wenn heute Gräben in der Erforschung von Spletts Leben und Wirken erkennbar sind, so sind diese nicht mit der polnisch-deutschen Grenze deckungsgleich !

Auch zeigt sich das polnische Erzbistum Danzig seit etlichen Jahren nicht nur an Splett interessiert, es widmete ihm auch Gedenktafeln und ein Bild in der ‚Ahnenreihe‘ der Äbte und Bischöfe in Oliva. Trotz vielfacher Aktivität ist jedoch nicht zu verkennen, dass die demographische Entwicklung vor allem in Deutschland ihre Schatten auf die Splett-Memoria wirft und es auch in Polen – politisch bedingt – wesentlich ruhiger um Splett geworden ist.

Prof. Dr. Stefan Samerski lehrt Kirchengeschichte an der Ludwig-Maximilians-Universität München sowie am Priesterseminar Redemptoris Mater und ist Pfarrvikar in Berlin-Charlottenburg.

In den Blick genommen

Ulrike Draesner: Sieben Sprünge vom Rand der Welt

Dieser im Jahre 2014 veröffentliche Roman von Ulrike Draesner hat sogleich große Aufmerksamkeit erregt. 2016 folgte bereits eine Taschenbuchausgabe, und in einem Internet-Portal setzt sich die Diskussion über dieses – und mit diesem – Buch unvermindert fort.

Jeder, der seine Heimat verlassen und an einem anderen Ort neu anfangen muss, erlebt und empfindet dies auf seine ganz eigene Weise – lebenslang und mit Auswirkungen bis in die nachfolgenden Generationen. Solch individuellem Erleben spürt Ulrike Draesner in ihrem Roman nach, wobei sie Menschen aus vier Generationen eine Stimme gibt, die Schrecken und Schönheit des Weiterlebens, willkürliche und unwillkürliche Erinnerungen reflektieren. Ergänzt wird das Buch von einer Website, mit der quasi der Sprung in ein anderes Medium realisiert wird. Leserinnen und Lesern bietet sich damit nicht nur ein Forum für individuelles Feed­back, sondern zudem Gelegenheit zum Austausch eigener Erfahrungen.

Draesner erzählt die Lebensgeschichte des Kriegskindes ­Eustachius Grolmann, geboren 1930 in Schlesien, das im Januar 1945 mit seinen Eltern und seinem behinderten Bruder durch den schlesischen Winterwald gen Westen floh. Neben Fragmenten seiner Erinnerung an die Flucht wird in Beiträgen seiner Eltern, seiner Tochter und seiner Enkelin gespiegelt, welches Ausmaß an menschlicher Tragödie er zu bewältigen hatte. Verletzt, geschädigt, traumatisiert, trauernd um den auf der Flucht zu Tode gekommenen Bruder, entwickelt der Naturwissenschaftler eine ganz eigene Überlebensphilosophie: Er wendet sich Tieren zu, die er besser zu verstehen meint als Menschen. Ist der Leser zunächst verwundert ob der zuweilen skurril anmutenden Gedankengänge des alternden Eustachius und der umfangreichen Beschäftigung mit Affenprojekten, werden zunehmend verblüffende Parallelen erkennbar, von denen die Vertreibung aus dem ursprünglichen Lebensraum nur die offensichtlichste ist.

In Grolmanns Tochter Simone findet die nachfolgende Generation ihre Stimme. Als erfolgreiche Verhaltensforscherin folgt die Tochter beruflich den Spuren von Eustachius, und obschon viele Jahre nach dem Krieg in Bayern geboren, ist sie geprägt durch das Schweigen des Vaters und seine unsichtbaren Schmerzen. Familienkonflikte und Neurosen machen ihr zu schaffen. So ist ihre Angst vor Schnee nur erklärbar durch die Fluchterfahrungen des Vaters aus dem Winter 45. Sie liebt ihren Vater – und kommt ihm gleichwohl nicht nah. In solchen Erfahrungen werden sich zahlreiche Kinder von Menschen mit Fluchtvergangenheit wiederfinden. Simone repräsentiert im Roman die transgenerationale Weitergabe von Traumatisierungen, doch auch der Mann, in den sie sich verliebt, bringt eine Fluchtgeschichte mit. Dieser Protagonist, der im Sinne eines „re­enactments“ die Vertreibungen, die nach 1945 innerhalb Polens stattfanden, nachzeichnet, und seine Mutter machen deutlich, dass es nicht „die“ Wahrheit zu den Geschehnissen in Europa 1945 und ihren bis heute spürbaren Folgen gibt. Eindringlich lotet die Autorin im Erzählstrang der aus Ostpolen nach Breslau vertriebenen Halka aus, was die Polen durchgemacht haben, was ihnen zugemutet worden ist.

Das Geschichts- und Familienpanorama wird ergänzt durch die Berichte der Eltern von Eustachius. Sowohl der Vater, der Erfahrungen in zwei Weltkriegen machen muss, als auch die Mutter sind getrieben von der Sorge um den behinderten Sohn, der im nationalsozialistischen Umfeld besonderen Schutzes bedarf. Doch Kriegsgeschehen und Flucht in letzter Stunde machen es unmöglich, diesen Schutz aufrechtzuerhalten – ein weiteres Trauma, das die Familie mitnimmt in die neue Heimat.

Ulrike Draesner trägt mit ihrem vielschichtigen Roman die Gefühle der Betroffenen nah an den Leser heran. Ihr Anliegen, so beschreibt sie es selber, ist es, das Schweigen der Erlebnisgeneration „hinüberzuziehen, zu übersetzen in sprachlichen Ausdruck“. Sie entscheidet sich, stilistische Grenzen hinter sich zu lassen, indem sie jeder ihrer Figuren eine individuelle Note verleiht, sodass ein Kaleidoskop unterschiedlicher Sprachcodes und Perspektiven entsteht. Zuweilen geradezu lyrisch, dann wieder sachlich und kühl, wechselt mit jedem Protagonisten die Sprachebene. Draesner mutet ihren Lesern viel zu, thematisch und literarisch. Ihr Roman ist eine Herausforderung, nicht immer einfach zu lesen. Doch wer sich darauf einlässt, den unterschiedlichen Spuren zu folgen, entdeckt nicht nur, wie Inhalt und Sprache miteinander virtuos korrespondieren und kontrastieren. In denen, die „vom Rand der Welt“ gesprungen sind, kann der Leser sich wiederfinden mit seiner Geschichte, den Erfahrungen der eigenen Familie, dem Leid der Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts, das bis heute vernehmbar ist.

Und mehr noch : Seit seinen Anfängen ist das Buch von einer Website begleitet worden – der Roman wechselt das Medium, „springt“ aus der Buchwelt ins Netz. Die Website „der-siebte-sprung.de“ bietet ein ausführliches Interview mit der Autorin, welches Einblicke in ihre Schreibwerkstatt gewährt, und gibt Informationen zu den deutschen und polnischen Quellen, die genutzt worden sind.

In den Erfahrungen der Leser und Leserinnen lebt das Projekt auch nach Erscheinen des Romans fort, so dass ein interaktiver Dialog zwischen Schriftstellerin und Lesern, aber auch von Lesern untereinander gefördert wird. Es bietet sich ein Forum für die, denen die Erfahrungen von Flucht und Vertreibung nicht fremd sind, ebenso wie für die, die als nachfolgende Generation sprechen. Die Stimmen der Leser bestätigen die Authentizität dessen, was die fiktiven Protagonisten erleben und erleiden, und spiegeln sie in ganz eigener Weise. Daneben können via Twitter Eindrücke von den Recherchereisen der Autorin nachvollzogen werden.

Ulrike Draesner, vielfach ausgezeichnet für ihr Werk, ist mit ihrem atmosphärisch dichten, zum Nachdenken und Nachfühlen anregenden Roman Sieben Sprünge vom Rand der Welt ein herausragendes literarisches Zeugnis gelungen, was schon 2014, im Jahr der Erstveröffentlichung, die Nominierung für den Deutschen Buchpreis belegt hat.

Annegret Schröder

Die Marienburg in Westpreußen – ein europäischer Erinnerungsort

Auf dem Weg zu einer gemeinsamen Erinnerung

Von Christoph Kienemann

Menschen nehmen ihre Geschichte nicht nur über Erzählungen wahr ;  auch historische Bauwerke spielen in der Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit eine wichtige Rolle. So kann man auch in Westpreußen Orte finden, die für die deutsche Geschichte von herausragender Bedeutung sind. Die Marienburg ist einer dieser Orte, Danzig wäre ein anderer. Heute sind diese Orte zu Erinnerungsorten geworden, zu Orten, an denen das kollektive Gedächtnis einer Nation einen festen Bezugspunkt findet.

Erinnerungsorte besitzen für die Menschen eine besondere Bedeutung, haben einen Symbolwert und sollen den Menschen verraten, wer sie sind und zu welcher nationalen Gruppe sie gehören. Die Bedeutung von Erinnerungsorten wandelt sich allerdings mit den Jahren zwangsläufig, da sie immer an den Bedürfnissen der jeweiligen Gegenwart ausgerichtet ist. Während die Marienburg im 19. Jahrhundert noch als Ort der nationalen Konfrontation zwischen Deutschen und Polen galt, ist sie in der Gegenwart zu einem Symbol der europäischen Partnerschaft geworden, in dem die nationalistische Engführung der Geschichte überwunden erscheint.

Die Romantik formt den Erinnerungsort

Die Marienburg, die als größtes Backsteinbauwerk der Welt zwischen 1270 und 1300 am Ufer der Nogat entstand, ist ohne Zweifel ein Ort von erheblicher historischer Bedeutung. Die Ritter des Deutschen Ordens errichteten sie einst zur Sicherung ihrer Eroberungen, bauten die Burg bald zu ihrem Haupthaus aus und mussten sie später an den polnischen König Kasimir IV. Jagiello abtreten. Als Teil Polen-­Litauens wurde die Burg zu einem Verwaltungssitz und gelangte nach der ersten Teilung Polens im Jahre 1772 in den Besitz des preußischen Königs. An der Schwelle zum 19. Jahrhundert ändert sich die Rolle der Marienburg :  Die Burg ist nun nicht mehr nur ein Bauwerk, das administrativen Zwecken dient, sondern wird zu einem deutsch-­polnischen Erinnerungsort.

Bei der Übernahme im Jahre 1772 wusste Friedrich der Große nur wenig mit der Marienburg anzufangen. Als Verteidigungsbauwerk hatte die Burg schon lange ausgedient und genügte keinesfalls mehr den Ansprüchen an eine moderne Festungsanlage. Schon allein aus finanziellen Überlegungen mussten die preußischen Beamten aber eine Verwendung für die Burg finden, wenn sie nicht gleich ganz abgerissen werden sollte. Die Marienburg wurde daher in eine Kaserne umgewandelt. Vor der historischen Bausubstanz hatte man in Preußen keinen Respekt und fügte der Burg erhebliche Schäden zu, die teilweise noch heute zu erkennen sind. Als Anhänger der Aufklärung begegnete der König der Marienburg mit Geringschätzung. Doch schon bald nach seinem Tode änderte sich bei den Hohenzollern diese Grundhaltung. Nach der Besetzung Deutschlands durch die napoleonischen Truppen und den anschließenden Befreiungskriegen begann sich die Erinnerung an die Marienburg und die Ordensritter zu wandeln. Im Gegensatz zur Aufklärung war die Romantik fasziniert vom Mittelalter. Der Staat des Deutschen Ordens und seine Ordensburgen übten eine besondere Faszination auf die Romantiker aus. Doch Besucher wie der Maler Max von Schenkendorf (1783–1817) fanden die Marienburg in einem desolaten Zustand vor :  verwahrlost und durch eine profane Nutzung „entstellt“. Nachdem der junge Architekt Friedrich Gilly (1772–1800) Zeichnungen und Skizzen der Ordensburg angefertigt hatte und diese in der preußischen Öffentlichkeit große Aufmerksamkeit erregten, sah König Friedrich Wilhelm III. von einem weiteren Abbruch der Burg ab. Schon bald begannen Restaurierungsarbeiten an der Ordensburg, die entscheidend mit der Person Theodor von Schöns, seit 1815 Oberpräsident von Westpreußen, verbunden waren. Von Schön avancierte zum Initiator des Wiederaufbaus.

Mit der Restaurierung der Marienburg begann sich die preußische Gesellschaft der Geschichte zu bedienen, um das Bauwerk als nationales Symbol zu nutzen. Aus der Marienburg sollte ein Nationaldenkmal werden, durch das der preußische Staat eine neue Selbstdefinition gewinnen sollte. Dafür musste aber an die Geschichte der Burg und an diejenige des Deutschen Ordens anders erinnert werden, als man es zuvor getan hatte. Schön selbst beschrieb diesen Wandel folgendermaßen :

Marienburg hatte ich vor dem Kriege 1806 zweimal in seiner tiefsten Erniedrigung gesehen, aber ich hatte es mehr als Curiosität, wie als Sprache des Himmels betrachtet. Im Jahr 1816 sah ich es wieder, und ich sah etwas anderes, als ich früher gesehen hatte.

Der Oberpräsident beabsichtigte, durch die Marienburg auf das Volk zu wirken, und demnach standen die 1817 beginnenden Restaurierungsarbeiten an der Ordensburg unter der Prämisse, ein deutsches National-Monument, ein deutsches Westminster, zu errichten. Die Ordensgeschichte sollte in einem ganz neuen Licht erstrahlen :  als historischer Vorläufer des preußischen Staates. Theodor von Schön ließ für dieses Ansinnen beispielsweise ein Fenster für den Großen Remter der Burg anfertigen, das einen Ordensritter aus der Zeit der Kreuzzüge und einen Landwehrmann aus den Napoleonischen Kriegen zeigte. In einem Brief an Friedrich Schinkel betonte von Schön :

Ohne deutschen Ordensritter zwar kein Kopernik, kein Kant, kein Herder und kein Dach und – kein Landwehrmann, aber die Blüte ist schöner als der Stamm und die Blume ist dem Himmel näher als die Wurzel.

Die Botschaft war klar:  die Geschichte des Deutschen Ritterordens und der Marienburg sollte als zukunftsgerichteter Auftrag an den preußischen Staat verstanden werden. Westpreußen erschien dabei als urdeutsches Gebiet, der Deutsche Orden als kulturell und zivilisatorisch den Polen weit überlegen, zudem als Wegbereiter Preußens. Der Untergang des Deutschordensstaates stellte man als nationale Kata­strophe, als Sieg der barbarischen Slawen über die zerstrittenen Deutschen dar.

Diese Interpretation der Geschichte, an der neben Theodor von Schön auch der Historiker Johannes Voigt (1786–1863) und der Dichter Joseph von Eichendorff mitwirkten, hatte derweil mit den historischen Fakten nur wenig zu tun. Keinesfalls war die Auseinandersetzung des Deutschen Ordens mit der polnisch-­litauischen Rzeczpospolita eine nationale Auseinandersetzung ;  hier trafen Vielvölkerstaaten aufeinander, in deren Heeren Soldaten unterschiedlichster Abstammungen gegeneinander kämpften. Auch die Ursachen für den Untergang des Ordensstaates gingen keineswegs in erster Linie von Polen-Litauen aus. Angesichts rapide sinkender Bevölkerungszahlen im Europa des 15. Jahrhunderts verfielen die Getreidepreise, was wiederum den Orden als großen Getreideproduzenten schwer traf. Insbesondere setzte dem Orden aber die Gründung des „Preußischen Bundes“ stark zu. Die Städte der Region – Danzig, Thorn, Elbing, Braunsberg  – stellten sich gegen die Ordensherrschaft, da sie ihre wirtschaftlichen Interessen durch den Orden bedroht sahen. Schließlich wandten sich die Mitglieder jenes Preußischen Bundes dem polnischen König zu. Er sagte ihnen großzügige Privilegien zu, die dann auch bis zur ersten Teilung Polens bestehen blieben.

Die deutsche Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts bezeichnete dieses Verhalten der Städte als Verrat an der deutschen Nation. Die Erinnerung an den Deutschen Orden, wie sie nach 1800 gepflegt wurde, sollte nunmehr die preußisch-­deutschen Ansprüche auf Westpreußen legitimieren, diejenigen des Gegners delegitimieren und natürlich die eigenen Anhänger mobilisieren. Keineswegs hatten die Preußen im Jahre 1772 im damaligen Königlichen Preußen begeisterte Preußen und Deutsche vorgefunden, die sich freuten, nun ein Teil des Hohenzollern-­Reiches zu werden. Viele Städte fürchteten das Ende ihrer Privilegien und die Konzentration der Regierungsgewalt im fernen Berlin. Mitnichten bedeutete die Annexion des Königlichen Preußen durch die Hohenzollern eine preußisch-deutsche „Wiedervereinigung“. Im Königlichen Preußen hatte sich ein Landesbewusstsein herausgebildet, das keine Anknüpfungspunkte zum Deutschen Orden hatte, sondern vielmehr im Freiheitskampf der preußischen Städte gegen den Orden begründet war. Dieses Landesbewusstsein vollzog damit auch eine Abgrenzung zum Herzoglichen Preußen, da es die polnischen Könige als Garanten für die Freiheit des Landes empfand. Nach der Annexion des Königlichen Preußen nahm Friedrich II. die Huldigung der Preußischen Stände in der Marienburg entgegen und brach durch diesen demonstrativen Akt mit jenem früheren preußischen Landesbewusstsein.

Deutsche und polnische Erinnerungskonzepte der Kaiserzeit

Die Stilisierung der Ordensritter zu Helden und „Vorkämpfern des Deutschtums“ erreichte nach der Gründung des Deutschen Reiches 1871 ihren Höhepunkt. Wiederum galt es im Reich, die eigenen deutschen Ansprüche auf Westpreußen, aber auch auf Posen zu begründen. In der Geschichte des Deutschen Ordens fand man dafür weiterhin die passenden Argumente :  Zivilisierte Ordensritter brachten den unzivilsierten Slawen im Osten Europas westeuropäische Kultur und gewannen damit die Ostmark für Deutschland. So lässt sich die Erinnerung an den Deutschen Orden nach 1871 zusammenfassen. Die Marienburg spielte dabei als zentraler Erinnerungsort eine wichtige Rolle. Kaiser Wilhelm II. nutzte die Ordensburg für die Vertiefung des deutsch-polnischen Gegensatzes. Die Geschichtspolitik der Zeit präsentierte die Marienburg verstärkt als ein Abbild des deutschen Staates, als Barriere zwischen deutscher Hochkultur und polnischer „Unkultur“. Nirgends wurde wohl die Inszenierung der Marienburg als Mythos so deutlich, wie auf dem Johanniter Ordensfest, das 1902 als offizieller Abschluss der durch Conrad Steinbrecht 1896 begonnenen Restaurierungsarbeiten abgehaltenen wurde. Als Höhepunkt dieses Spektakels, an dem über 1.000 Personen teilnahmen und dessen Hauptattraktion der Einzug einer Gruppe kostümierter Ordensritter darstellte, hielt Kaiser Wilhelm II. eine Rede über die besondere Bedeutung der Marienburg für die deutsche Nation. Wilhelm II. ging dabei auf die geografische Symbolik des Ortes ein :  die Marienburg hätte sich schon immer an der Grenze des Deutschen Reiches befunden, die zentrale Aufgabe des Ordens hätte stets an dieser Stelle gelegen. Der Kaiser und viele seiner Zeitgenossen waren der Meinung, dass die Marienburg bereits im Mittelalter ein Bollwerk gegen die Deutschtumsfeindlichkeit der Polen dargestellt habe und das Deutsche Reich nun den Abwehrkampf des Deutschen Ordens gegen die Slawen fortführen müsste. Dies spielte sich vor dem Hintergrund einer immer rücksichts­loseren Germanisierungspolitik des Deutschen Reiches in seinen östlichen Provinzen ab. Dagegen suchten sich die Polen mit der sogenannten Organischen Arbeit (praca organiczna) zur Wehr zu setzten, die auf eine Steigerung ihrer eigenen wirtschaftlichen und intellektuellen Potentiale zielte.

Allerdings machten sich nicht nur die Deutschen ein verzerrtes Bild von der Geschichte des Deutschen Ordens. Auf polnischer Seite entwickelte sich ein extrem negatives Bild von den Ordensrittern, und das Stereotyp der Kreuzritter wurde zum Inbegriff der Deutschen schlechthin. Den Ordensrittern wurde in vielen literarischen Darstellungen eine „germanische Aggressivität“ zugeschrieben. Der bedeutende polnische Historiker Joachim Lelewel (1786–1861) setzte den Orden in seiner „Polnischen Geschichte“ mit einer Macht der stetigen Unterdrückung durch die Deutschen gleich. In Polen waren also – nur spiegelverkehrt – die gleichen Mechanismen am Werk wie in Preußen und im Deutschen Reich. Die Vergangenheit wurde den Erfordernissen einer Gegenwart unterworfen, die sich auf einen nahezu „naturgegebenen“ deutsch-polnischen Gegensatz berief. Dieser Antagonismus fand in der Geschichte selbst aber keine Begründung, sondern resultierte vor allem aus der Realpolitik des 19. Jahrhunderts. So setzten polnische Historiker und Publizisten die Ordensritter ebenfalls mit den Preußen der damaligen Gegenwart gleich. Vor allem das populäre Genre des historischen Romans bediente sich des negativen Kreuzritterbildes. An dieser Stelle sei insbesondere der 1898 erschienene Roman Krzyżacy des nachmaligen Literaturnobelpreisträgers Henryk Sienkiewicz (1846–1916) genannt, der ab 1918 sogar zur Pflichtlektüre im Polnischunterricht wurde. Vielleicht noch wirkmächtiger im historischen Bewusstsein der Polen wurden die monumentalen Gemälde Jan Matejkos (1838–1893). Die Schlacht bei Tannenberg (Bitwa pod Grunwaldem) von 1878 gehörte zur Dauerausstellung der Warschauer Galerie Zachęta und zog die Besucher in ihren Bann. In der Zeit des Kulturkampfes und der Germanisierungspolitik des Deutschen Reiches verstärkte sich die Gleichsetzung von Ordensrittern, Preußen und Deutschen in der polnischen Öffentlichkeit immer mehr. In der Epoche der Teilungen ermöglichten die Ordensritter zugleich die Rückbesinnung auf eine glorreiche Vergangenheit, in der – auf die anachronistische moderne Vorstellung von „Nationen“ übertragen – Polen gegen Deutschland militärisch erfolgreich gewesen war. Nicht zuletzt dieser Bezug auf einen seit Jahrhunderten währenden deutsch-polnischen Gegensatz verhalf den Polen in den Teilungsgebieten zur Entwicklung einer gemeinsamen Identität.

Auf dem Wege zu einer gemeinsamen Erinnerungskultur

Die konträre „Besetzung“ der Marienburg und des Deutschen Ordens mit nationalen, von politischen Interessen geleiteten Vorstellungen hatte für Alternativen kaum noch Raum gelassen. In Deutschland verblassten diese Feindbilder erst allmählich nach dem Zweiten Weltkrieg, in Polen sogar erst nach 1989. Autoren wie Günter Grass, Johannes Bobrowski oder Horst Bienek präsentierten in ihren Werken eine andere Lesart der Geschichte und eröffneten Perspektiven auf eine zwar geteilte, aber doch gemeinsame Geschichte von Deutschen und Polen. In Polen ist das negative Kreuzritter-Stereotyp als Kennzeichnung für die Deutschen ebenfalls immer mehr aus den öffentlichen Debatten verschwunden. In der Marienburg konnte bereits seit den 1960er Jahren ein Museum entstehen, das inzwischen einen europäischen Erinnerungsort darstellt. Hier wird die Geschichte der Burg und des Deutschen Ordens musealisiert, während auch die Bevölkerung der Stadt Marienburg die gemeinsame Geschichte als Teil ihrer Vergangenheit akzeptiert hat. In Thorn befürworteten 60% der Einwohner eine Initiative der Stadtverwaltung, ein Denkmal für die Ordensritter Hermann von Salza und Hermann von Balk zu errichten, die als Stadtgründer von Thorn gelten. Ein Vorgang, der über viele Jahrzehnte sicherlich undenkbar gewesen wäre. So gehört heute auch die Geschichte des Deutschen Ordens zum nationalen Bewusstsein der Polen. Die Marienburg ist zu einem transnationalen Erinnerungsort geworden, der Platz bietet für verschiedene Zugänge zur Geschichte, für Erinnerungen, die sich gegenseitig nicht mehr ausschließen, sondern sich wechselseitig ergänzen und respektieren können.    

Dr. des. Christoph Kienemann M. A. — Historiker und Journalist, studierte Geschichte, Soziologie und Politikwissenschaften in Oldenburg, Thorn und Warschau. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören die deutsche Kolonialgeschichte, die moderne Mythenforschung sowie die deutsch-polnische Beziehungsgeschichte.

»Galeria Pępowo« – ein internationaler Treffpunkt für VW-Fans in der Kaschubei

Nicht weit vom Lech-Wałęsa-Flughafen entfernt liegt Pempau (Pępowo) in der Gemeinde Zuckau (Kr. Karthaus). Dort betreibt der Kaschube Zenon Suchecki gemeinsam mit seiner Frau Ewa, einer Danzigerin, ein weit bekanntes und mit einem kleinen Hotel kombiniertes Volkswagen-Museum. Dieser Ort ist schon seit einiger Zeit für viele VW-­Begeisterte zu einem unwidersteh­lichen Anziehungspunkt geworden

„Wenn Sie ausgepackt haben, dann kommen Sie auf den Hof und lassen Sie uns in Ruhe einen Kaffee oder ein Bier zusammen trinken ! “ Mit diesen freundlichen Worten händigt der Museumseigner dem Hotelgast den Zimmerschlüssel aus und begibt sich dann wieder nach unten, wo soeben eine kleine Besuchergruppe eingetroffen ist, die sich durch das Museum führen lassen möchte.

Die Idee zu diesem Museum ist über lange Zeit gereift. Ewa und Zenon Suchecki waren 1981 nach Berlin (West) gezogen. Schon in den 1970er Jahren hatte Zenons Vater einen importierten VW-­Käfer besessen, und der Sohn, der nun in einer Berliner Fabrik für Kunststoffartikel tätig war, fuhr jetzt ebenfalls einen Wagen dieser Marke. Schon in Berlin begann die Familie, ältere Volkswagen zu sammeln und zu restaurieren. Nach der politischen Wende in Osteuropa stand für sie, der das Unternehmertum sozusagen „im Blut“ liegt, fest, dass sie über kurz oder lang mit einem eigenen kunststoffverarbeitenden Betrieb in ihre Heimat zurückkehren würde. Im Jahre 1995 war es so weit :  Zenon begann mit dem Aufbau des Betriebes in Praust bei Danzig, 2001 folgte ihm der Rest der Familie nach. Insbesondere für die Söhne Robert und Thomas, die in Berlin die Schule besucht hatten, war die Umstellung nicht ganz leicht.

Im Jahre 2000 entstand bei Ewa und Zenon Suchecki der Wunsch, die Öffentlichkeit an der Freude über die immer größer werdende Oldtimer-Sammlung teilhaben zu lassen. Sie suchten nach ­einem geeigneten Grundstück und fanden es schließlich in Pempau. Bald darauf begannen sie mit dem Bau des Museums, in dem neben ihrer Privatwohnung auch eine Werkstatt untergebracht ist, in der historische Fahrzeuge aufs Feinste restauriert werden – nicht nur fürs eigene Museum, sondern zunehmend auch für Oldtimerbesitzer aus dem In- und Ausland.

Die Geschäftsidee der Sucheckis umfasst aber nicht nur den bloßen Museums- und Werkstattbetrieb, sondern auch das Angebot, zumindest einen Teil des Fahrzeugparks mieten und die wertvollen Wagen selbst chauffieren zu können. Zudem wurden im Haus moderne Fremdenzimmer mit Dusche / WC und TV sowie ein Speiseraum eingerichtet ;  draußen auf dem Gelände befinden sich eine gemütliche Bierbar und eine Zeltwiese, die auch Platz für Wohnmobile und Wohnwagen bietet. So können die Gäste in der Galeria Pępowo wohnen, sich einen VW-­Käfer mieten und Tagesausflüge unternehmen, beispielsweise in die Kaschubische Schweiz, nach Danzig, Leba oder Hela. Wer mag, kann besondere Fahrzeuge (wie z. B. Karmann Ghia, Bulli oder Kübelwagen) mit Fahrer tage- oder stundenweise mieten, beispielsweise für Hochzeiten oder Betriebsfeiern.

Von der Danziger Innenstadt aus ist das Museum mit dem Linienbus in 40 Minuten zu erreichen ;  außerdem sind seit kurzem sowohl Pempau als auch Zuckau an die neue S-Bahn-Linie von Danzig nach Karthaus angeschlossen. – Wenn man dann tagsüber mit dem Bus, dem Zug oder dem gemieteten Käfer die Schönheiten der Kaschubei erkundet hat, gibt es nichts Schöneres, als in der Bierbar oder im Wintergarten ein traumhaft kühles Blondes vom Fass zu genießen. Zudem lässt die Musik, die von der dort aufgestellten legendären Wurlitzer „Atlanta“-Musikbox aus den siebziger Jahren gespielt wird, die Herzen jedes Oldtimer-Freundes höher schlagen. Dies ist die perfekte Abrundung einer wohligen nostalgischen Stimmung !

Rainer Claaßen