Am ersten Tag des Zweiten Weltkriegs: Die Toten von Simonsdorf

Von Hans-Peter Goergens

Mit zunehmendem Alter wollte ich genauer wissen, warum wir unsere Heimat verloren haben. Bisher war ich mit einer einfachen Antwort auf diese Frage zufrieden gewesen :  Weil wir den Krieg verloren haben. Es blieb dann allerdings die Frage, wer „wir“ sind. Und wer für den Krieg bezahlt hat. In meiner Verwandtschaft mütterlicherseits kamen auf der Flucht sechs Kinder ums Leben. Wie ist es dazu gekommen ?

Ich bin im März 1944 in Altweichsel in der ehemaligen Freien Stadt Danzig, also in unmittelbarer Nachbarschaft von Simonsdorf, geboren. Mein Vater stammt direkt aus diesem Ort. Bei meinen Studien zur Vorgeschichte und zum Beginn des Zweiten Weltkriegs bin ich deshalb immer wieder auf die Ereignisse zurückgekommen, die sich dort am 1. September zugetragen haben.

Der Krieg vor dem Krieg

Nachdem am 25. und 26. ­August 1939, einige Tage vor dem offiziellen Kriegsbeginn, der Handstreich auf den Jablunkapass gescheitert war – dabei hatte die Wehrmacht versucht, die Sprengung des dortigen Eisenbahntunnels zu verhindern –, war die polnische Armee in besonderem Maße vor ähnlichen Kommandounternehmen gewarnt. So rechnete sie auch bereits damit, dass das deutsche Militär bei der Eröffnung kriegerischer Handlungen alles daransetzen würde, die Dirschauer Brücken, die bereits zur Sprengung vorbereitet worden waren, unversehrt in die Hand zu bekommen. Der polnische Brücken­kopf, den es bei Ließau auf der Ostseite der Weichsel gab, war daraufhin nochmals aufgerüstet worden.

Die erwartete Aktion der deutschen Seite wurde dann am frühen Morgen des 1. September tatsächlich begonnen. Durch Stuka-Angriffe sollten verschiedene wichtige Punkte in Dirschau zerstört werden. Dabei bildeten die Zündkabel an den Weichselbrücken ein bevorzugtes Ziel. Gleichzeitig sollten Wehrmachtseinheiten in einem Güterzug von Marienburg nach Dirschau fahren und die Brücken besetzen. Post und Bahn unterstanden in Danzig allerdings Polen. Züge der Reichsbahn wurden mit polnischen Lokomotiven und mit polnischer Besatzung durch das Gebiet der Freien Stadt gefahren. Der Güterzug wurde deshalb ordnungsgemäß angemeldet, die polnische Lokomotive fuhr nach Marienburg. Von dort waren es nach Dirschau 18 km. Die an der Strecke liegenden Bahnhöfe Kalthof, Simonsdorf und Ließau waren mit polnischem Personal besetzt. In Simonsdorf war auch die Zollstation.

Vor der Rückfahrt wurden die polnischen Eisenbahner auf der Lokomotive überwältigt und durch deutsche in polnischer Uniform ersetzt. Die Belegschaften der drei Bahnhöfe sollten durch Kommandounternehmen örtlicher SA-Einheiten inhaftiert werden. Dies gelang in Kalt­hof und Ließau problemlos. Auch die in ihren Wohnungen befindlichen Eisenbahner wurden aus den Betten geholt. In Simonsdorf hingegen wurde, wie sich späterhin zeigte, die Operation nicht plangemäß durchgeführt.

Um 4.15 Uhr sollte der Güterzug, gefolgt von einem Panzerzug, in Marienburg losfahren. Es gab jedoch eine Verspätung von einigen Minuten. Vermutlich schöpften die Eisenbahner in Simonsdorf hierdurch Verdacht. Möglicherweise fand auch ein Beamter in Kalthof noch eine Gelegenheit, sie telefonisch zu informieren. Dies ist aber nicht gesichert. Auf jeden Fall gelang es, Dirschau von Simonsdorf aus noch durch eine Signalrakete zu warnen.

Die Folge war, dass die Weichselbrücken durch Tore geschlossen wurden. Die Gleise waren nun durch querliegende Schienen gesperrt. Als der recht lange Zug um 4.42 Uhr vor der Brücke stand, eröffnete die polnischen Soldaten des Ließauer Brückenkopfs das Feuer. Die Wehrmachtssoldaten sprangen aus dem Güterzug und schossen zurück. Im gleichen Moment kamen die Stukas von Ostpreußen her und griffen Dirschau und die Zündleitungen an. Der hinten stehende Panzerzug war zunächst jedoch aktionsunfähig. Beide Züge mussten erst umrangiert werden, damit sich dem Panzerzug ein freies Schussfeld bot. (Unter den verschiedenen Berichten gibt es eine weitere, unbestätigte Version, nach der die Bahnbeamten von Simonsdorf den Panzerzug sogar umgeleitet hätten.) Die ganzen Aktionen blieben letztlich aber wirkungslos, denn die Brücken konnten ohne weitere Einwirkungen von außen gesprengt werden.

Ab 5.45 Uhr wurde dann von der Schleswig-­Holstein aus das Feuer auf die Westerplatte eröffnet, – jetzt erst hatte der Zweite Weltkrieg eigentlich begonnen.

Opfer und Täter

Zu diesem Zeitpunkt war das Massaker schon begangen worden. Im Bericht des Oberkommandos der Wehrmacht (OKW) stand, aufgrund der gebotenen Eile hätte „scharf durchgegriffen“ werden müssen. Die Beteiligten des „Unternehmens Post“ berichteten zudem von Gegenwehr der Bahnbeamten, die nach der Aussage einzelner Zeugen sogar bewaffnet gewesen sein sollten. Dem Bericht zufolge hatte es deshalb neben 15 Gefangenen, davon fünf Verwundeten, 20 Tote gegeben.

Als die Wehrmacht in Simonsdorf eintraf, lagen jene 20 Opfer in einem Massengrab. Auf die Frage, wer das sei, wurde die Antwort gegeben, es handele sich um Mitglieder der „polnischen Minderheit“.  Der Wehrmachtsoffizier soll daraufhin entgegnet habe, das sei wohl kein Grund, sie zu erschießen. Die Soldaten fanden zudem noch einen bewusstlosen Beamten (namens Lessnau), dessen Frau ebenfalls zu den Opfern gehörte. Er wurde nach Marienburg ins Krankenhaus gebracht.

Für die Ermordeten musste mein Großvater, er war Schmied in Simonsdorf, auf Geheiß des Gendarmerie-­Wachtmeisters Gröning jeweils ein Metalltäfelchen mit dem Namen anfertigen. Bei den Toten handelte es sich um zwölf Bahnbeamte, sechs Zollbeamte und zwei Frauen, eine davon schwanger. Sie wohnten im Bahn- bzw. Zollgebäude. Sofern sie keinen Dienst hatten, waren sie aus ihren Wohnungen geholt worden.

Abgesehen davon, dass die Aktionen insgesamt völkerrechtswidrig gewesen sind, waren die Morde in dieser Systematik nicht zu rechtfertigen. Sie wirken vor allem wie ein Willkürakt, eine von aufgestautem Hass motivierte Tat, denn es wurden alle Polen ermordet, die überhaupt greifbar waren. Dass einer von ihnen schwerverletzt überlebte, war allein der hinzukommenden Wehrmacht zu verdanken. Das „Unternehmen Post“ sollte durch ortskundige SA-Leute durchgeführt werden. Es gab den Befehl, die Belegschaften der Bahnhöfe festzusetzen, sie sollten jedoch nicht ermordet werden. Dies geschah somit eigenmächtig und war – selbst wenn eine Notwehr-Situation bestanden haben sollte – gänzlich unverhältnismäßig.

Wer waren nun die Täter ?  Die SS-Heimwehr Danzig war mit Angriffen auf die Danziger Post und (von Norden her) auf Dirschau beschäftigt. Sie kam mithin nicht in Betracht. So waren viele aus dem Umkreis der SA verdächtig. Nach dem Krieg wurden auch etliche vernommen, sowohl durch die polnische Seite als auch auf Veranlassung der Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen in Ludwigsburg. Darunter waren auch mein Großvater Hermann und sein Sohn Herbert Goergens. Von dessen Brüdern war Horst erst 15 Jahre alt, Hans befand sich bei der „Heimwehr Danzig“ und Bruno, Alfred (mein Vater) und Fritz waren vermutlich bei ihren Wehrmachtseinheiten in Ostpreußen.

Simonsdorf hatte damals etwa 700 Einwohner, überwiegend Deutsche, und etwa 160 polnische Saisonarbeiter. Nach Auskunft meines Großvaters gehörten viele Männer zum SA-Sturm Simonsdorf. Niemand wollte jedoch einen der Täter erkannt haben ;  und auch der verletzte Eisenbahner konnte keine Aussage machen, weil er bewusstlos gewesen war. Nach dem ursprünglichen Plan sollten 15 Mann die Aktion in Simonsdorf durchführen. Ob sich eine größere Zahl von ihnen daran beteiligte, ist nicht bekannt. Nach den vorhandenen Aussagen sollten SA-Männer aus Marienburg und Simonsdorf die Täter gewesen sein, und es war auch von angeblich unbekannten Beteiligten die Rede. Trotz einer langen Liste von Verdächtigen wurde letztlich also niemand ermittelt, geschweige denn vor Gericht gestellt. Und inzwischen sind alle verstorben. Die einzige Zeitzeugin, die ich noch befragen konnte, war meine (1921 geborene) Mutter. Sie arbeitete damals im Gut Söhnke als Wirtschafterin, ca. 200 m vom Tatort entfernt. Sie hatte auch Schüsse gehört, natürlich auch die Flugzeuge, konnte über Täter aber natürlich keine Auskünfte geben. Sie erinnerte sich aber noch deutlich daran, dass die Vorgänge „eine große Aufregung im Dorf“ verursachten.

Persönliche Folgerungen

Nachdem die Nachgeborenen, denen die einfachen Antworten der Eltern und Großeltern nicht mehr ausreichten, sich – oft viel zu spät – selbst auf die Suche gemacht und historisch anscheinend verlässliche Fakten, verstreute Dokumente und Erinnerungssplitter zusammengetragen haben, stehen sie vor diesen Materialien und müssen überlegen, was sie mit dieser Geschichte, in die die eigene Familie involviert gewesen ist, aber auch mit anderen, ähnlichen Geschichten jetzt anfangen ?  Die wichtigste Frage, die sich mir an diesem Punkt stellt, ist diejenige nach der Art des Zusammenlebens zwischen Polen und Deutschen in ­einem Klima, das offenbar tiefgreifend von Misstrauen, wenn nicht gegenseitiger Verachtung oder gar Hass geprägt war.

Eine wichtige Antwort lässt sich im „Totenwald“ von Piasnitz bei Neustadt finden, beim Besuch der über 20 Gedenkstätten. An den dortigen Mordtaten, die kurz nach Beginn des Zweiten Weltkriegs begangen wurden, waren Männer des „Volksdeutschen Selbstschutzes“ beteiligt, d. h. hier haben in gewisser Weise Nachbarn ihre Nachbarn umgebracht, wobei die entsprechenden Listen schon vor dem Kriegsausbruch gefertigt worden waren.

An dieser Stelle finden sich Entsprechungen zu den Plänen der polnischen Seite, die z. B. in Bromberg oder bei den Deportationen der Deutschen umgesetzt wurden, denn auch sie waren längst vor dem Beginn der kriegerischen Handlungen gefasst worden. Erschreckend aber ist das Ausmaß der Massaker, die von Deutschen gerade auf dem Boden Westpreußens begangen wurden. Nun begegneten mir auch weitere Details des Terrors, den Deutsche während des Zweiten Weltkriegs in Polen ausgeübt hatten. So verfolgte ich die Spuren von zwei Deporta­tionszügen, mit denen Zwangsarbeiter ins Deutsche Reich verbracht worden waren. Dabei führte die Recherche zunächst durch ganz Polen, denn die Stationen der Züge hießen Warschau, Treblinka, Budzyn, Majdanek, Lublin, Rzeszów, Plaszow, Krakau, Wieliczka, Flossenbürg und Offenburg bzw. Colmar. Zudem wurde mir nachdrücklich bewusst, wie viele Kinder (jüdische wie nicht-jüdische) in diesem Krieg ihr Leben verloren, verhungerten oder erschlagen, erschossen oder vergast wurden. Gerade im Blick auf die Kinder wurde beklemmend deutlich, mit welcher Kraft der – durch die nationalsozialistische Ideologie nochmals gesteigerte – Nationalismus und Chauvinismus des späten 19. wie des 20. Jahrhunderts es vermocht hatten, ethisch-moralische Empfindungen und Haltungen wie Empathie und Mitmenschlichkeit außer Kraft zu setzen, sie ins völlige Gegenteil zu pervertieren. Und damit wurde auch erheblich klarer, wer immer mit gemeint war, wenn es hieß, dass „wir“ diesen Krieg verloren hätten.

Damit war zwar noch keineswegs beantwortet, warum die Deutschen aus den ostmittel- und osteuropäischen Siedlungsgebieten für diesen Krieg hatten „bezahlen“ müssen, zumal sich kein erlittenes Unrecht jemals gegen eine anderes „aufrechnen“ lässt. Wohl aber zeigte sich mir, dass diese Frage angesichts des grenzenlosen Hasses und Vernichtungswillens, die in jener Phase der deutsch-polnischen Geschichte möglich geworden waren, ihre Relevanz verlor :  Stattdessen sollten gerade wir Kinder und Enkel von Flüchtlingen und Heimatvertriebenen einen Beitrag für die Zukunft unseres Kontinents leisten, denn nach unserer Erfahrung führt die übersteigerte Orientierung am „Nationalen“ zu leicht in die Irre :  Die anstehenden Pro­bleme – nicht zuletzt die drängenden Fragen der Verteilung und Integration von heutigen Flüchtlingen – können nur durch gemeinsame, transnationale oder internationale Modelle des Zusammenwirkens bewältigt werden. Gerade wir und unsere Familien haben eigene, bittere Erfahrungen machen müssen :  Bringen wir sie ein, nicht rückwärtsgewandt, sondern positiv und brüderlich – für eine bessere Zukunft.

Hans-Peter Goergens, zunächst im Polizeidienst, ab 1975 bis zur Pensionierung hauptamtlicher Gewerkschaftssekretär;  engagiert sich neben seiner Publikations- und Vortragstätigkeit vor allem in der Bildungs- und Projektarbeit mit Jugendlichen und bietet dabei z. B. regelmäßige Führungen durch das KZ Natzweiler-Struthof und andere Gedenk­stätten an.

 

In der August-Ausgabe dieser Zeitung hat Helmut Brauer von den Deutschen berichtet, die in Polen nach dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs deportiert und auf regelrechte Todesmärsche geschickt wurden. Auf dieses Thema war er gestoßen, weil die Vorgänge selbst sowie deren Rekonstruktion in den Jahren 1939 bis 1941 aufs engste mit der eigenen Familiengeschichte verwoben sind. In vergleichbarer Weise ist Hans-Peter Goergens, der Autor des vorliegenden Artikels, schicksalhaft mit Simonsdorf verbunden, denn aus jenem Ort im Kreis Großes Werder stammt seine Familie – und gerade am Bahnhof von Simonsdorf wurde schon in den frühen Morgenstunden des 1. September ein erstes Massaker an polnischen Männern und Frauen verübt. Dieses Geschehen, in das der Großvater unmittelbar involviert war, hat Hans Peter Goergens nicht mehr losgelassen und hat ihn letztlich dazu veranlasst, sich nicht nur intensiv mit der Geschichte des Zweiten Weltgriegs – insbesondere mit der deutschen Besetzung Polens – auseinanderzusetzen, sondern seine Einsichten auch gesellschaftlich in vielfältigen Formen des politischen Engagements fruchtbar zu machen.

DW

Als der Krieg nach Danzig kam: Deutsche Kriegsausstellung in Danzig vom 9. September bis 9. Oktober 1916

Im September 1916 war der Krieg zu Gast in Danzig, genauer gesagt in der Reithalle an der Großen Allee: gut organisiert und ohne – anders als an der Front – Tote zu fordern. Hier wurde am 9. September vor 100 Jahren die Deutsche Kriegsausstellung Danzig eröffnet, die für einen Monat in der westpreußischen Provinzhauptstadt zu sehen war.

Dieses Ereignis war im Deutschen Reich, das sich gerade im dritten Kriegsjahr befand, kein Einzelfall, sondern Teil einer systematischen Propaganda. So fanden im gleichen Jahr entsprechende Ausstellungen im Berlin, Darmstadt, Hamburg und Karlsruhe statt. Veranstaltet wurden sie vom Zentralkomitee der Deutschen Vereine vom Roten Kreuz – im »Einverständnis und mit Unterstützung des Königlich Preußischen Kriegsministeriums«, so die offizielle Formulierung.

Der für die reichsweit organisierten Ausstellungen her­ausgegebene Katalog Deutsche Kriegsausstellungen 1916, den die DW-Redaktion vor kürzerer Zeit entdeckt hat, gibt heute noch Einblicke in diese historische Schau. Ihn flankierten Zusatzbände, die jeweils für die einzelnen lokalen Ausstellungen konzipiert wurden. Denjenigen zur Danziger Ausstellung hat die polnische Internetplattform Pommersche digitale Bibliothek inzwischen online zugänglich gemacht (http://pbc.gda.pl/publication/11108).

Propaganda und Wohltätigkeit

Mit ihrer propagandistischen Intention hielten die Initiatoren der Ausstellung keineswegs hinter dem Berg. Sie erklärten dem Ausstellungsbesucher bzw. Leser einleitend: »Der Grundgedanke der Kriegsausstellung ist, der Bevölkerung zum Bewußtsein zu bringen, wie gewaltig die Bewaffnung unserer Feinde, wie schwer der Krieg der Neuzeit ist und sie mit Dankbarkeit für die wackeren Krieger zu erfüllen, die ihr Blut für das Vaterland opfern, aber auch ihnen das Bewußtsein der Dankbarkeit wachzurufen für unser Herrscherhaus, das die Kriegstüchtigkeit unseres Volkes von jeher zu mehren bemüht war.«

Aus diesen Zeilen spricht jedoch nicht einfach nur Kriegspropaganda, sondern zugleich die Notwendigkeit, der Bevölkerung einen Krieg zu »erklären«, von dem die Soldaten eigentlich bis Weihnachten 1914 hätten nach Hause zurückkehren sollen – der sich jedoch zu einer nie dagewesenen Materialschlacht entwickelte, in der die Soldaten (und ihre Angehörigen) mit den im Wortsinn schrecklichen Konsequenzen einer gleichfalls neuen Form von technisierter Kriegsführung konfrontiert wurden und ihnen ausgeliefert waren.

 Neben diesem Informationsauftrag verfolgte die Kriegsausstellung letztlich das Ziel, die »Kriegswohl­tätigkeit«, vor allem die Hilfe für »Kriegerfrauen«, zu unterstützen. So wurde der Erlös der Ausstellung für den Provinzialverein des Roten Kreuzes, die »Kriegshilfe für Danzig« und den »Verwaltungsausschuss für Kriegs­invaliden« bestimmt.

Schanze und Schützengraben

Neben einer »Beuteabteilung«, die Waffen und Ausrüstung der Kriegsgegner – und damit sowohl deren Bedrohlich­keit, als auch die Überlegenheit der siegreichen Deutschen – zur Schau stellte, und einer fotografischen Abteilung mit Aufnahmen aus den Kriegsgebieten stand die »Danziger Sonderabteilung«. Diese stellte in vielfacher Weise immer wieder auch Bezüge zwischen der Stadt bzw. Provinz und der militärischen Gesamtthematik der Ausstellung her.

So zeigte die »Marineabteilung« Modelle von Schiffen, die auf Danziger Werften gebaut worden waren, u. a. die  kleinen Kreuzer SMS Danzig (Kaiserliche Werft Danzig) und SMS Gefion (Ferdinand Schichau, Danzig). Maritime Interessen befriedigte gleichfalls eine Abteilung zur Skagerrak-­Schlacht. So sehr auch hiermit dem Ziel entsprochen wurde, über den gegenwärtigen Stand militärischer Bedrohung und Rüstung zu informieren, war die Ausstellung zugleich bemüht, Kontinuität zu militärgeschichtlichen Traditionen herzustellen: So zeigte eine historische Sammlung ergänzend »Kupferstiche, Gemälde usw., See-Erinnerungen aus älterer Zeit« und in einem »Danziger Zimmer« »Originalgemälde und Bilder, die auf die Geschichte Danzigs als Hafenstadt Bezug haben«.

Ähnliches gilt für die Präsentation des Heeres: Für Lokalkolorit sorgte eine Schau der aktuellen Kriegs- und Friedensuniformen, in der »sämtliche westpreußischen Regimenter« zusammengestellt waren. Wie bereits bei der Marine wird auch hier versucht, die aktuelle mit der historischen Kriegsführung zu parallelisieren. So findet sich ebenso eine »mit alten Geschützen« geschmückte mittelalterliche Schanze wie ein vom Landwehr-Infanterie-Regiment 21 realitätsgetreu erbauter moderner Schützengraben.

Gesellschaftlicher Rückhalt und wirtschaftlicher Profit

Die Ausstellung war nicht nur von der staatlichen Obrigkeit erwünscht – den Ehrenvorsitz hatte die preußisch-deutsche Kronprinzessin Cecilie zu Mecklenburg übernommen. Vielmehr wurde sie von weiten Kreisen der gesellschaftlichen Eliten in Stadt und Provinz mitgetragen: Dem  »Ehren-­Ausschuß« der Danziger Ausstellung gehörten Vertreter des Adels, des Militärs, der Politik, Verwaltung und Wirtschaft ebenso an wie Vertreter des Pressewesens und der Religionen – etwa Rabbiner Dr. phil. Kaelter, Konsistorial-­Präsident Peter und der Culmer Bischof Dr. Rosentreter.

Ein Stück weit ging die gesellschaftliche Unterstützung für die Ausstellung einher mit keineswegs verborgenen ökonomischen Interessen. Das verdeutlicht der an das Verzeichnis der Ausstellungsstücke anschließende Werbeteil des Katalogs: Neben Anzeigen aus unterschiedlichen Gewerben – etwa für »Danziger Springerlikör« – wird hier auch der Krieg selbst vermarktet: Kriegsanleihen der Danziger Bankhäuser, Produkte der Militär-Effekten- und Uniform-Fabrik M. Kemski & Co.; und Velhagen & Klasing, der Verleger der Kataloge, hat auch »Kriegskarten« im Programm;  das Sport-Haus Carl-Rabe bietet Militär-Ausrüstung an, Hahn & Loechel künstliche Glieder und Bandagen – und auf einer ganzseitigen Anzeige raucht ein Soldat »Unsere beliebte Heimats-Zigarette« der Zigarettenfabrik Stambul.

Zwar waren zu dieser Zeit die Folgen des Krieges in Danzig schon sichtbar – etwa durch Invaliden mit Prothesen von Hahn & Loechel. Die Grundhaltung der Kataloge zeigt jedoch, dass der Krieg – noch – in all seinen Konsequenzen so fern schien, dass er nur dank einer solchen Ausstellung zu ›erfassen‹ und ›begreifen‹ war. Der Erste Weltkrieg selbst drang mit seinen Frontlinien auch bis 1918 nicht mehr auf deutschen Boden und bis Danzig fort – seine bitteren politischen Folgen sollte dann aber gerade Danzig erfahren müssen.

Tilman Asmus Fischer

Doch wird ihn jeder lesen? – Im Krebsgang von Günter Grass als Lektüre in einer Abitur-Klasse

Von Annegret Schröder

Die Novelle Im Krebsgang von Günter Grass hat bei ihrem Erscheinen 2002 erhebliches Aufsehen erregt, weil hier ein namhafter und politisch keineswegs dem »rechten« Spektrum zuzurechnender Autor sich mit der Thematik der Massenflucht am Ende des Zweiten Weltkrieges auseinandersetzt und sich zudem auf die Problematik einlässt, dass auch Deutsche als unschuldige Kriegsopfer zu betrachten seien. Das Interesse an solch einem Buch bedarf freilich immer neuer Impulse. Selbst ein Nobelpreisträger wie Günter Grass ist nicht vor der Gefahr gefeit, die Lessing in Bezug auf einen höchst berühmten Dichter seiner Zeit präzise formuliert hat: »Wer wird nicht einen Klopstock loben. Doch wird ihn jeder lesen? Nein.« Unter dieser Voraussetzung erschien es äußerst spannend, die heutige Vermittlung »großer« Literatur sowie der von Grass aktua­lisierten historischen Vorgänge gemeinsam mit einer Abitur-Klasse wie in einem Modellversuch zu überprüfen.

Als »Eine Novelle« wird Im Krebsgang vom Autor Günter Grass angekündigt, und der durch Johann Peter Ecker­mann überlieferten Äußerung Goethes, eine Novelle sei eine »sich ereignete, unerhörte Begebenheit«, folgend, kann das im Mittelpunkt des Textes stehende Ereignis – der Untergang des Flüchtlingsschiffs Wilhelm Gustloff am 30. Januar 1945 in der Ostsee – zweifellos als »außer­ordentlich«, »einzigartig« und »unerhört« charakterisiert werden. Die realen Geschehnisse erweisen sich dabei in doppeltem Sinne als »unerhört«, sind sie doch nach Ansicht des Erzählers bislang nicht ausreichend zu Gehör gebracht worden.

Dass aktuell, mehr als siebzig Jahre nach der Schiffs­katastrophe am Ende des Zweiten Weltkriegs, Gesellschaft und Politik erneut herausgefordert sind, sich mit Flüchtlingselend und Vertreibung auseinander zu setzen, ist ein Ansatzpunkt für die Behandlung des Krebsgang im schulischen Kontext. Die Novelle steht zugleich exemplarisch für die literarische Diskussion großer Menschheitsthemen wie der Frage von Leid und Gerechtigkeit und des Sinns der Geschichte, aber auch nach kulturellem Erbe und nationaler Selbstvergewisserung. Nicht zuletzt stellen künstlerische Substanz und Spezifik ein Kriterium für die Auswahl dieses in vielfacher Hinsicht anspruchsvollen Textes dar.

Didaktische Hinwege

Eine dreischrittige Erarbeitung – Kennenlernen der historischen Problematik anhand verschiedener Bild- und Textmaterialien, Analyse und Reflexion von Erzählstruktur und -strategie, Blick auf den Autor Günter Grass und seine aufklärerische Intention – korrespondiert dabei mit den curricularen Vorgaben entsprechenden Kompetenz­erwerbs, wobei als ein Schwerpunkt Fragen an Autor und Text gestellt werden sollen. Nicht eine »fertige« Inter­pretation ist das Ziel solcher textlicher wie sachlicher Erschließung, vielmehr sollen damit Versuche unter­nommen werden, das Gelesene in größere Zusammen­hänge einzuordnen, Perspektivwechsel zu wagen und unter Einbeziehung erzähltechnischer und biografischer Charakteristika Anregungen für die eigene Persönlichkeits­entwicklung erfahren zu ­können.

Mit dem komplexen Nebeneinander von Informationen und Daten, von Motiven, Perspektiven, persönlichen Schicksalen, mit seinen Brechungen und Spiegelungen, darstellend und appellativ, erscheint der vielschichtige Krebsgang-Text in besonderer Weise geeignet, Leser zu konfrontieren, gleichwohl erschweren es gerade die von Grass gewählte Erzählweise und die metanarrative Ordnung, die dargestellten Ereignisse in einen kausalen Zusammenhang zu bringen und so einen unmittelbaren Zugang zu finden.

Darum war es bei der Erarbeitung im Deutschunterricht unerlässlich, mit eigenen Leitfragen, reduziert auf zwei zentrale Elemente, den Studierenden Hilfestellung zu geben: 1. Auf welche Weise wird in der Novelle Im Krebsgang historischer Stoff verarbeitet? 2. Worin besteht die aktuelle Relevanz, die überzeitliche Intention des Textes? Parallel wurde die – doppelte, historische wie fiktive – Chronologie der Ereignisse als Ankerpunkt gewählt, zu welchem im Laufe der Erarbeitung immer wieder zurückgekehrt werden kann.

Auf schwankem Boden

Die Unterrichtseinheit, welche im Herbst 2015 mit angehenden Abiturienten durchgeführt wurde, begann mit einer Überraschung: Literarisch sozialisiert mit Werken wie Die Blechtrommel, Der Butt, Das Treffen in Telgte bis zu Mein Jahrhundert und das mediale Echo zum Tod des Nobelpreisträgers wenige Monate zuvor noch in Erinnerung, war ich nicht darauf vorbereitet, dass der Autor Günter Grass und seine Bücher den jungen Lesern vollkommen fremd waren. Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg waren ausführlich im Geschichts­unterricht behandelt worden (mit der bekannten Dominanz des Holocaust), doch blieben wichtige Vorgänge der letzten Kriegsmonate sowie die geschichtlichen Entwicklungen nach dem 8. Mai 1945 weitestgehend ausgeblendet. Weder über Flucht und Vertreibung sowie den folgenden Neuanfang – in West- und Mitteldeutschland – noch über Geschichte und Kultur der deutschen Ostgebiete waren mehr als nur rudimentäre Kenntnisse vorhanden. Dieser Sachstand führte zu der spontanen Entscheidung, vor der eigentlichen Arbeit am Text einen »Crash-Kurs« einzuschieben, um die größten Lücken – historischer, politischer und literarischer Art – wenigstens in Ansätzen zu schließen. So gelang es zudem, die Person Günter Grass, ihre Biografie und ihre Heimatstadt Danzig in den Blick zu nehmen. Schon wegen der zur Verfügung stehenden Zeit war jedoch eine Begrenzung notwendig. Auch wenn die spezifische Sprachregelung und Geschichtsdeutung der DDR im Buch eine nicht unwesentliche Rolle spielen, konnte dieses »Unterthema« nur gestreift werden.

Nachvollziehen und Verstehen zentraler Strukturmomente

Mit den beschriebenen Eingrenzungen gelang es, den Fokus der eigentlichen Textarbeit auf das »unerhörte« Ereignis zu legen – und die Orientierung an den Leitfragen als eine Art roten Faden beizubehalten. Grass überträgt den Erzählauftrag einem – fiktiven – Ich-Erzähler, der exemplarisch die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit durchlebt und durchleidet und, über den Text hinausweisend, eine sowohl berichtend-erzählende als auch reflektierende und kommentierende Rolle einnimmt. Ausgestattet mit dem Geburtsdatum 30. Januar 1945, dem Tag des Untergangs der Gustloff, wird dieser Ich-Erzähler zum selber Betroffenen, der sich mit penibler Recherche um umfassende und angemessene Geschichtsschreibung bemüht, während er den Versuch unternimmt, zugleich Distanz zu halten, sich nicht vereinnahmen zu lassen von den Lebens- und Fluchterfahrungen der Mutter wie von der ideologisch verblendeten Geschichtsversessenheit des eigenen Sohnes.

Dieses Motiv der »Verkürzung« mit zunehmender zeitlicher Distanz zu den geschichtlichen Ereignissen durchzieht den gesamten Text, markiert aus der Sicht von Günter Grass eine Art der Überführung von Primär­erfahrungen der Zeitzeugengeneration in eine medial geprägte, ganz ­eigene Form der Erinnerungskultur und »Würdigung« der Katas­trophe, angesichts derer er vor dem Wiederaufleben faschistischen Gedankenguts, vereinfachender Sichtweise und Geschichtsklitterung warnt. Dabei wird dieses Spannungsverhältnis vom Autor selber jedoch letztlich nicht aufgelöst. Aus den Reaktionen der jugendlichen Leser und der Notwendigkeit, sie angesichts des ohnehin sehr anspruchsvollen Textes nicht zu überfordern, ergab es sich, dass der Themenkreis Rechtsradikalismus und Neonazismus nicht vorrangig untersucht wurde. (Auch dies eine Überraschung – doch hätte es den Rahmen des Deutsch­unterrichts bei weitem gesprengt, diese Thematik vollständig aufzuarbeiten, so dass wir uns darauf beschränkten, nur auf der textlichen Ebene, also vor allem mittels der Haltung des Protagonisten aus der Enkelgeneration, die Problematik von deutscher Erinnerungskultur in ihrer extremen rechtsorientierten Ausrichtung zu analysieren und zu ­reflektieren.)

Mit dem Ich-Erzähler Paul Pokriefke und seinem »Warum erst jetzt?« begegnete uns der doppelte Anspruch Grass‘, einerseits die Erinnerungen der Zeitzeugengeneration zu verschriftlichen (wobei dieses individuelle Erinnern stets rückgebunden an kollektives Erinnern, in welcher Form auch immer, zu verstehen ist) und damit zu bewahren, andererseits das Dilemma einer Generation zu problema­tisieren, die sich von der Zeit, aus der sie hervorging, zu distanzieren sucht. Diese innere Zerrissenheit, das Leiden an der eigenen Identität, und im weiteren Sinne die Enttabuisierung von Fluchterfahrungen und Vertreibungs­geschichte korrespondieren mit der von Grass gewählten sprachlichen Gestaltung: Rhetorische Fragen, Störungen des Erzählens wie Redeabbrüche, unvollständige Sätze und Erzählverzicht signalisieren die Schwierigkeiten der Nachfolgegeneration, Worte zu finden für das Nicht-Erzählbare, das Nicht-Verstehbare. Zugleich spiegeln sich damit die individuellen Erfahrungen der Zeitzeugen, ihre Traumata, ihre emotionale Erregung und Betroffenheit. Einen Zugang zu diesem gestalterischen wie inhaltlichen Anspruch versuchten – und realisierten – wir über die Titelgebung. Grass selber erläutert den »Krebsgang« als »Rückwärtsgang« und »der Zeit etwa schrägläufig in die Quere kommen, etwa nach Art der Krebse, […] doch ziemlich schnell vorankommen«. Damit beschreibt er das nicht lineare, nicht hierarchisch gebundene Erzählprinzip im Mit- und Nebeneinander der verschiedenen Handlungs­stränge und macht deutlich, wie sehr auch er selber – in der Novelle als der »Alte« aus der Ferne beobachtend und begleitend dargestellt – mit Thema und Form ringen musste.

Die zu analysierenden, vielfältigen Aspekte, mit welchen die Protagonisten der Novelle das wechselseitige Unverständnis der Generationen aufzubrechen suchen, können an dieser Stelle nur ansatzweise vorgestellt werden. Genannt sei hier als ein Element der Einsatz von Umgangssprache und Dialekt: Das von der Zeitzeugin Tulla Pokriefke verwendete Danziger Platt und ihre stereotypen Wendungen repräsen­tieren dabei die untergegangene Epoche des »Dritten Reiches« ebenso wie ihr Herkunftsbewusstsein, stehen aber auch für die rezeptionelle Problematik der Zeitzeugen. Als textliche »Stolpersteine« hemmen wie unterstützen sie den inhaltlichen Anspruch von Authentizität und Perspektivwechsel.

Erfahrungen und Erträge

Im Bewusstsein, wichtige Fragen wie die bundes­republikanische Opfer-Täter-Debatte, die Blindstellen offizieller DDR-Geschichtspolitik oder die vom Autor deutlich gemachte Medienskepsis angesichts stetig wachsender, aber undurchschaubarer, pseudohistorischer Informationsflut der neuen Medien nur angerissen zu haben, konnte im Rahmen der Lektüre der Beitrag von Günter Grass, welchen dieser mit der Novelle Im Krebsgang zur Enttabuisierung der deutschen Leidens­geschichte geleistet hat, deutlich gemacht werden. Der historische wie biografische Abstand neutralisiert den Zugang der jungen Leser. In diesem Sinne lässt sich für das ambitionierte Vorhaben resümieren, dass trotz aller zeitlichen und inhaltlichen Beschränkungen wichtige Ziele erreicht werden konnten. Neben dem Kennenlernen der historischen Problematik und der Einordnung des »unerhörten« Ereignisses in größere Zusammenhänge sowie Analyse und Reflexion der Grass’schen Erzählmuster und -strategien sind es vor allem Fragen nach dem historischen und kulturellen Erbe und der nationalen Selbstvergewisserung, welche den Schülern Anregungen für die eigene Haltung geben konnten. Als sehr wertvoll erwies es sich darüber hinaus, dass die Unterrichtseinheit generationenübergreifende, individuelle Gespräche in den Familien anzuregen vermochte. Erklärten zu Beginn noch alle beteiligten Schüler, Flucht und Vertreibung seien keine für sie relevanten Themen, wuchs im Laufe der Auseinandersetzung mit dem Text nicht nur das Interesse an diesem selbst, sondern auch das Bewusstsein für eigene, familiäre Erfahrungen und Prägungen (diese sind durchaus vorhanden gewesen). In einige der sich ergebenden Gespräche und Diskussionen mit Angehörigen der Erlebnisgeneration eingebunden zu werden, ist letztlich eine große Freude und Bestätigung gewesen.

Annegret Schröder studierte Germanistik, evangelische Theologie und Pädagogik, zudem Ausbildung zur Verlagskauffrau; tätig als Gymnasiallehrerin an einer privaten Wirtschaftsschule. Seit Beginn des Jahres ist sie Mitglied im Stiftungsrat der Kulturstiftung Westpreußen.

Sport – Natur – Wellness – Kultur

Der Tourismus in der Region
der Danziger Bucht

Von Magdalena Lemańczyk

Der Tourismus in der Danziger Bucht hat eine bereits jahrhundertelange Tradition und wird bis heute nicht nur durch naturlandschaftliche, geschichtliche und kulturelle Faktoren, sondern auch durch wirtschaftliche Interessen geprägt. Mittlerweile ist er in der Region sogar zu einer tragenden Komponente der Ökonomie geworden. Diese breite Vermarktung touristischer Möglichkeiten schafft Voraussetzungen, die mit den Konfigurationen des Fremdenverkehrs in der Zeit vor 1945 – und erst recht mit jenen während des real existierenden Sozialismus bis 1989 – gänzlich unvergleichlich sind. Deshalb dürfte eine genauere Betrachtung der aktuellen Situation und der weiteren Entwicklungsperspektiven gerade Leserinnen und Lesern in Deutschland vertiefte Einsichten in die komplexen Zusammenhänge des heutigen Reiselandes Westpreußen vermitteln.

Landschaft und Kultur

Das Gebiet der Danziger Bucht reicht im Süd-­Osten bis an die Frische Nehrung. Sie schließt das Frische Haff ein, das mit der Ostsee über die Meerenge von Pillau verbunden ist. Der nord-westliche Teil der Danziger Bucht, vom Nord-Osten durch die Halbinsel Hela begrenzt, trägt den Namen Putziger Wiek. Die Grenze der Danziger Bucht zum offenen Meer bestimmt das Seegebiet zwischen den Kaps von Brüsterort (heute Taran, dt. Rammbock) und Rixhöft (Rozewie). Das eigentliche Seegebiet der Bucht wird, trotz seiner vielen Vorzüge, freilich erst in Verbindung mit dem Angebot der in Küstennähe sowie der im Hinterland liegenden Ortschaften der Woiwodschaft Pommern zu einem perfekten Ort für die Etablierung und das Angebot verschiedener Tourismusformen.

Dabei kann man zunächst die wesentlichen Elemente des Kultur- und Naturerbes hervorheben, die der Region einen spezifischen Charakter verleihen und zugleich touristische »Markenzeichen« darstellen. – Die kulturellen Attraktionen gehen hauptsächlich aus der mehr als tausendjährigen Geschichte des alten Danzigs, der modernen Stadt Gdingen (Gdynia) und des Kurorts Zoppott hervor und basieren auf dem multikulturellen Erbe des Landes sowie der sich rapide entwickelnden Wirtschaft und Wissenschaft (hauptsächlich im Ballungsgebiet der Dreistadt). Ihre Kristallisationspunkte sind beispielsweise die auf der Liste des UNESCO-Welt­erbes stehende Burg des Deutschen Ordens in Marienburg und die Tafeln mit den 21 Forderungen der im August 1980 streikenden Arbeiter, das Netz der weiteren Deutschordensburgen, die Klöster und Kathedralen sowie Orte, die mit der Geschichte des 2. Weltkrieges und mit dem Erbe der »Solidarność«-Bewegung verbunden sind (das Massaker an Arbeitern in Gdingen 1970; der Solidarność-Platz mit dem Denkmal der gefallenen Werftarbeiter in Danzig, das Tor Nr. 2 der Danziger Werft und das Administrationsgebäude mit der Arbeitsschutzhalle).

Die einzigartigen Elemente des Naturerbes der Woiwodschaft Pommern bilden vor allem die Ostseeküste und zwei Nationalparks: die Tucheler Heide (Bory Tucholskie) und der Slowinzische Nationalpark (Słowiński Park Narodowy) – Biosphärenreservate im Rahmen des Programms »Man and the Biosphere« – sowie sieben Landschaftsschutzparks, die gänzlich in den Grenzen der Woiwodschaft liegen, zwei weitere, die ihr nur teilweise zugehören, sowie schließlich Gebiete des Netzwerks »Natura-2000«.

Lokale Ausprägungen

Die touristische Attraktivität des Gebiets ist hinsichtlich des Umfangs und der Struktur der touristischen Dienstleistungen allerdings unterschiedlich verteilt. Aus diesem Grunde beschäftigt sich die Pommersche Regionale Tourismusorganisation (Pomorska Regionalna Organizacja Turystyczna) mit der Förderung aller Aktivitäten, die mit der Öffentlichkeitsarbeit und der Entwicklung der Touristik verbunden sind; denn die Woiwodschaft zerfällt in zwei Teilgebiete, deren Erschließung dringend einer Koordination bedarf: in den sich dynamisch entwickelnden Ballungsraum der Dreistadt (Trójmiasto) als dem wirtschaftlichen und gesellschaftlich-kulturellen Zentrum und in die übrigen Kreise, die zwar mehr oder weniger im förderlichen Einflussbereich der Dreistadt verbleiben, deren Infrastruktur im Verhältnis zum Zentrum jedoch eher peripher wirkt. Eine gewisse Ausnahme bilden dabei – mit internen Differenzierungen – kaschubische Gemeinden, die wegen ihrer einzigartigen klimatischen, natürlichen und kulturellen Vorzüge als ein touristisches Hauptpotential der Region zu kennzeichnen sind.

Generell lässt sich jedoch feststellen, dass – zumal in der ganzjährigen Perspektive – die Dreistadt bereits die meisten Nachfragen in den Bereichen des Kultur- sowie des Stadt-, Sport-, Küsten-, Erholungs-, Geschäfts- und Tagungstourismus befriedigt. Flankiert wird dieser Erfolg durch eine Reihe von Institutionen, die in den letzten zehn Jahren entstanden sind – wie das Europäische Solidarność-Zentrum, das Bernsteinmuseum, das Centrum Hewelianum, das Emigrationsmuseum in Gdingen oder – für Sport-Fans – das Stadion Energa Danzig und die Ergo Arena.

Demgegenüber suchen sich die außerhalb des Zentrums liegenden Ortschaften hauptsächlich über Angebote auf den Gebieten des Natur-, Küsten- und Dorftourismus mit den spezifischen Möglichkeiten von Sport, Leistungssport, Erholung und Wellness bzw. des Kultur- und Fachtourismus zu profilieren. Besondere Aufmerksamkeit erwecken hier z. B. die Marienburg, das (dem Andenken von Teodora und Izydor Gulgowski gewidmete) Freilichtmuseum »Kaschubischer Ethnografischer Park« in Wdzydze Kiszewskie, das Museum der Kaschubisch-Pommerschen Literatur und Musik in Neustadt (Wejherowo), das Slowinzische Dorfmuseum in Kluki, das Museum der Pommerschen Herzöge in Stolp (Słupsk) mit dem Mittelpommerschen Museum oder die Kunstfabrik (Fabryka Sztuk) in Dirschau (Tczew).

Ein immer noch unzureichend genutztes Potential steckt in den vielen erhaltenen Schlössern und Landhäusern sowie in den prächtigen Parkanlagen, in den Holzbauten in der Kaschubei, im Kociewie und im Werder (Żuławy), in den Fachwerkbauten der Stolper Gegend und in den verschiedenen Innenausstattungen der Sakralbauten, die faszinierende Zeugnisse der multikulturellen und multireligiösen Traditionen in diesem Land bieten. Weitere wesentliche, wenngleich oft noch vernachlässigte, Attraktionen wären – dank der Küsten-, See- und Flusslage reichlich vorhandene – historische Objekte der Wasserbaukunst (Wasserkraftwerke, Mühlen, Staudämme, Zugbrücken, Kanäle) sowie Häfen und Anlegestellen mit historischer In­fra­struktur, historische Fischerdörfer oder Wasserfahrzeuge, nicht zu vergessen die Elemente des olendrischen und mennonitischen Erbes im Werder. Zusätzliche Nischen innerhalb des Tourismusangebots bilden auch Erkundungsmöglichkeiten ehemaliger Militärgebiete wie auf Hela oder der Besuch von Industrie- und Technikdenkmälern (wie Speichern oder Brücken).

Nicht zuletzt bemühen sich die Gemeinden, Touristen durch die Vermarktung einzigartiger naturlandschaftlicher Vorzüge anzuziehen. Zu den Gebieten, die solche besonderen Markmale bieten, gehören unter anderem die slowinzisch-kaschubische Küste, die Halbinsel Hela, die Frische Nehrung und das Frische Haff, die Seenplatte von Bütow (»Blaues Ländchen«) sowie das Gebiet der Tucheler Heide.

Infrastruktur

Einen wichtigen Faktor des touristischen Erfolgs bildet die Erreichbarkeit der einzelnen Ortschaften, die sehr unterschiedlich ausgeprägt ist; denn es gibt einerseits im Ballungsgebiet der Dreistadt ein gut funktionierendes Verkehrsnetz, während andererseits im übrigen Teil noch ein erheblicher Modernisierungsbedarf besteht. Ein Tourist, der in der Woiwodschaft Pommern ankommt, bemerkt allerdings schon jetzt viele wesentliche Verbesserungen im Verkehrsnetz, die sich dank den in den Jahren 2007 bis 2014 getätigten Investitionen sowie dank den Mitteln möglich geworden sind, die aus den strategischen Programmen zur Entwicklung der Woiwodschaft Pommern bis 2020 stammen. Dazu zählen, um nur einige Beispiele zu nennen, der Ausbau des Lech-Wałęsa-Flughafens in Danzig, der eine immer stärker anwachsende Zahl an In- und Auslandsverbindungen bedient (2015 hat der Flughafen 3.706.108 Passagiere abgefertigt), die Modernisierung und der Ausbau des Eisenbahnnetzes (z. B. der im Jahre 2015 eröffneten Pommerschen Stadtbahnlinie, die langfristig die Dreistadt mit der Kaschubei verbinden soll, und der Express-Eisenbahnverbindung »Pendolino« zwischen Gdingen und Warschau), der Bau der Autobahn A1, der Südumgehung und des Straßentunnels unter der Toten Weichsel in Danzig, die Konstruktion der Weichselbrücke in Marienwerder oder der Bau mancher weiteren Umgehungsstraßen, nicht zuletzt die Einrichtung von Radwegen und die Verbesserung der Infrastruktur, die das Segeln auf der See und das Befahren von Binnengewässern ermöglicht bzw. erleichtert.

Über einen Mangel an Übernachtungsmöglichkeiten brauchen die Touristen, die die Region der Danziger Bucht bereisen, schon jetzt nicht zu klagen, obwohl es im hochpreisigen Sektor des Premium-Standards immer noch zu wenige Angebote gibt. Die Anzahl der Touristen­unterkünfte ist eine der höchsten in Polen, zeichnet sich gleichzeitig aber auch durch ein erhebliches Maß an saisonalen Schwankungen aus. Die Woiwodschaft steht im Hinblick auf die Anzahl der Betten (101.739, davon 19.113 in Hotels) und auf die Anzahl der Objekte (1.512, davon 188 Hotels) an zweiter Stelle im ganzen Land. Im Jahre 2015 stieg ihre Zahl im Vergleich zum Vorjahr 2014 um 4,3%, was 15,1% der neugeschaffenen Beherbergungsstätten in Polen ausgemacht hat. Allein in den Jahren von 2005 bis 2015 verdoppelte sich die Anzahl der Hotels in Pommern, denn sie erhöhte sich von 94 auf 188, woran mit Sicherheit die 2012 auch in Danzig ausgetragene Fußball-Europameisterschaft Anteil hatte. Außerdem hat die Woiwodschaft die meisten Camping- (27) und Zeltplätze (31) und liegt auch bei der Anzahl der Ferienanlagen (223) und der Komplexe mit Fremdenzimmern (546) national mit an der Spitze. Erwähnenswert ist zudem, dass mehr als 70% der Übernachtungsmöglichkeiten in den küstennahen Landkreisen – in Putzig, Tiegenhof (Nowy Dwór Gdański), Lauenburg (Lębork), Stolp (Słupsk) – sowie freilich auch in Danzig selbst liegen.

Auffallend ist schließlich der stetige Aufwärtstrend bei der Zahl der Touristen, die die Übernachtungsmöglichkeiten nutzen: Von 1.221.300 (davon 234.100 ausländischen) Besuchern im Jahre 2000 stieg sie auf 2.439.200 Personen (davon 451.900 aus dem Ausland) im Jahre 2015. Unter den ausländischen Besuchern waren im Jahre 2015 überwiegend Deutsche (25,8%) und Norweger (18,1%), gefolgt von Schweden (7,3%), Engländern (6,8%) und Russen (6,5%).

Zukunftsperspektiven

In den kommenden Jahren wird mit einer weiter wachsenden Zahl an Touristen in der Woiwodschaft Pommern zu rechnen sein. Diese Tendenz ist zum einen durch die Aufnahme Polens in die Strukturen der EU im Jahre 2004, durch den Beitritt zum Schengen-Raum (2007) und die Etablierung des (vorübergehend blockierten) kleinen Grenzverkehrs mit dem Kaliningrader Gebiet begünstigt worden. Zum anderen dürfte hinsichtlich möglicher terroristischer Bedrohungen auch das relativ stabile Sicherheits­niveau in Polen die Beliebtheit der dortigen Reiseziele weiterhin fördern. Grundsätzlich gilt es allerdings noch eine Reihe von Herausforderungen zu bewältigen, zu denen vor allem die Sicherung eines angemessenen, nach internationalen Maßstäben überzeugenden Preis-Leistungs-Verhältnisses gehört.

Die Entwicklung des gesamten wirtschaftlichen Sektors wird durch die politische und finanzielle Unterstützung der Woiwodschaftsverwaltung sicherlich auch weiterhin vorangebracht, denn die Landesregierung hat dazu auf nationaler wie auf europäischer Ebene bereits eine Reihe wichtiger Strategie-Papiere verabschiedet. Dazu gehören die Wachstumsstrategie der EU für das kommende Jahrzehnt, »Europa 2020«, die »EU-Strategie für den Ostseeraum« (mit dem entsprechenden Aktionsplan), die Nationale Strategie für die regionale Entwicklung (Krajowa Strategia Rozwoju Regionalnego) 2010–2020: Regionen, Städte, ländliche Gebiete (Regiony, Miasta, Obszary Wiejskie) sowie das Konzept der räumlichen Entwicklung des Landes 2030 (Koncepcja Przestrzennego Zagospodarowania Kraju 2030).

Für die Tourismus-Förderung in der Woiwodschaft gehört es in der Perspektive des Jahres 2020 gewiss zu den vordringlichen Aufgaben einer stabilen Zukunftssicherung, strategisch bedeutsame Bereiche zu identifizieren. Dazu können z. B. der Geschäfts- und Tagungstourismus, der Sanatoriums- und Reha-Tourismus oder der Kultur- und Fachtourismus gehören, die in einem weiter ausdifferenzierten Angebot erschlossen werden und als klar erkennbare eigenständige Marktsegmente – und mit bedarfsgerechten Konzepten versehen – zufriedenstellende und mithin erfolgsorientierte Antworten auf den soziodemografischen Wandel und die gesellschaftliche Nachfrage nach spezialisierten Dienstleistungen zu geben vermögen.

Dr. Magdalena Lemańczyk – Danzigerin, Soziologin; beschäftigt sich mit Fragen der Ethnizität und Nationalität, insbesondere der deutschen Minderheit, sowie der Multikulturalität in Pommerellen und der Kaschubei. Sie arbeitet vor allem in den Bereichen der soziologischen Feldforschung, qualitativer Forschungsmethoden und der Anthropologie.